Kathrins Notiz-Blog 26. September 11

© Illustration Liane Heinze

Ich liebe den September. Alles wird ruhig und klar. Es ist, als ob die Häuser und Bäume, die Stadt und der Himmel, näher zusammen rücken. Alles wird sich finden. Es ist nicht das Ende der Welt.

Auf den bunten Fliesen im Hausflur ist eine Nacktschnecke angetrocknet. Sie hat eine kleine Schleimspur hinterlassen. Sie ist hart wie Lakritz. Leon würde sie nehmen und in den Hof tragen, in ein würdigeres Grab. Aber Leon ist nicht hier.

Jolanda öffnet in Jogginghosen und T-Shirt. Sie ist heute vermutlich noch nicht vor die Tür gegangen. Ihr Gesicht ist verheult. Ich nehme sie in die Arme. Sie fühlt sich an wie eben erst aufgestanden, aufgeweicht und warm, formlos, aus der Fassung.

Ich lasse meinen Koffer im Flur stehen. Die Küche sieht noch genauso aus wie damals, als ich ausgezogen bin. Trotzdem wirkt die Wohnung dunkel. Jolanda hat in ihrem Zimmer schwere Vorhänge zugezogen.

Sie hatte angerufen und erzählt, dass Jakob weg ist, zurück zu seinen Eltern. Er sei sich plötzlich nicht mehr sicher gewesen, ob er das wirklich schon will, Zusammenleben in einer eigenen Wohnung und so.

„Das heißt doch nicht, dass er sich von dir trennen will“, sage ich.

„Er will für ein Jahr in die USA“, schreit Jolanda. Sie beginnt zu weinen.

„Aber das ist doch normal. Ihr seid jung. Er kommt zurück. Ein Jahr ist gar nichts.“

„Wieso spricht er nicht mit mir über alles? Wer bin ich denn für ihn?“ Sie lässt sich in einen der Korbstühle sacken, zieht die Beine an sich und schluchzt.

„Habt ihr nicht darüber gesprochen?“

„Mit den USA, das weiß ich nicht von ihm. Lukas hat es mir gestern erzählt.“

„Hast du Jakob gefragt, wieso er nicht mit dir zuerst darüber gesprochen hat?“

„Ja.“ Sie wischt die Tränen breit.

„Und?“

„Er sagt, ich würde zu schnell austicken. Was soll ich machen? Ich habe solche Angst davor, dass er geht.“

„Bleib ruhig! Es gibt unendlich viele Paare, die das überstanden haben.“

„Und genauso viele, die sich getrennt haben.“ Jolanda funkelt mich wütend an. Es ist das erste Mal, seit ich da bin, dass sie mich überhaupt anschaut.

„Alles war gerade so schön. Wieso kann es nicht so bleiben?“

„Weil ihr keine alten Leute seid.“

„Ich kann nicht alleine sein. Aber ich will auch nicht wieder mit dir hier leben. Jetzt ist es die Wohnung von Jakob und mir geworden.“ Sie schluchzt wieder.

„Ihr könnt telefonieren, skypen…“

„Aber er ist dann nicht hier, bei mir. Ich kann ihn nicht anfassen.“

„Er wird für dich da sein. Du kannst mit ihm reden, ihn besuchen. Vielleicht wird es eine wunderbare, intensive Zeit.“

Jolanda kaut auf ihrer Lippe.

„Aber hier in der Wohnung werde ich allein sein.“

„Davor hast du Angst?“

„Höllenangst.“

 

Jemand hat die Schnecke weg geräumt, aber ihre Schleimspur klebt noch auf den Fliesen. Sonne flutet die Straße. Ich versuche, mit dem Leben Schritt zu halten, wenigstens bis zu dem kleinen Laden an der Ecke. Als ich vor der Kühltruhe stehe, ratlos, welche Pizza ich für Jolanda und mich kaufen soll, ruft Leon wieder an. Er hat es im Laufe des Tages schon einige Male versucht, aber ich bin nicht ans Telefon gegangen.

„Ich wollte nur fragen, wie es dir geht“, sagt er.

„Geht so“, sage ich.

„Ich komme morgen Abend nach Berlin.“

„So.“

Schweigen.

„Wir können essen und reden.“

„Nein“, sage ich. „Es ist Schluss, ein für allemal.“

„Lass uns noch einmal reden.“

„Ruf an, wenn du hier bist.“ Ich lege auf. Die Tränen kommen.

Die bunten Pizzaschachteln verschwimmen. Ich greife in die Kühltruhe, ziehe etwas heraus. Wie in einer Tombola. Jolanda ruft an, bittet mich, Erdbeerjoghurt mitzubringen. Ich halte mit einer Hand das Telefon, tupfe mit der anderen die Tränen ab. Mein Portemonnaie kippt aus. Eine dünne Frau hilft mir, die Münzen aufzulesen. Ihre Umrisse verschwimmen. Jogginghose, enges, weißes Top. „Alles in Ordnung?“ Ihr Gesicht nähert sich. Dunkle Augen. Die Haare aus dem Gesicht. Pferdeschwanz. Wie wunderbar, dass es Menschen wie sie gibt. Sie tauchen im engen, überfüllten Gang des Spätverkaufs genau im richtigen Moment auf, machen, dass man einige Momente lang glücklich ist, und treten doch nur verschwommen, verwischt in Erscheinung.

„Sie haben nur Stracciatella und  Vanille“, melde ich Jolanda. Sie entscheidet sich für Stracciatella.

Ich suche nach der Frau in der Jogginghose, als das Telefon in meiner Tasche wieder surrt. Als ich den Tränenschleier weg gedrückt und Koljas Namen im Display gelesen habe, ist die Frau spurlos verschwunden.

„Ich mache mir Sorgen um dich.“ Koljas melancholische Stimme, die manchmal vornehm knarrt wie altes Parkett.

Vielleicht war die Frau ein Engel. „Achso”, sage ich.

„Wo bist du? Was machst du?“, fragt Kolja.

Ich erzähle ihm von Jolanda.

„Soll ich kommen?“

„Es ist schwierig“, sage ich. „Ich wäre heute lieber mit ihr allein.“

„Morgen?“

„Vielleicht morgen“, sage ich. Aber das ist auch keine Lösung, denke ich laut.

 

Später liege ich wieder in diesem Bett, direkt über den Cafés und Bars der Straße. Es ist so laut, als stünde das Bett mitten in einer Bar, dabei trennen mich mindestens sieben Meter von den Partys da unten.

Ich frage mich, wie es sein wird, wieder allein zu sein. Vielleicht werde ich es für immer bleiben.

Kann man von der Vergangenheit zehren? Wenn ja, wieviel Kalorien hat sie? Vor zwei Jahren im Erdbeerfeld war eine Frau, die mir erzählte, wie gut es ihr gegangen ist, als sie noch mit ihrem Freund zusammen gelebt und gearbeitet hat. Dann hat er sie wegen einer anderen verlassen und sie verlor auf einen Schlag ihr Zuhause und ihre Arbeit. Sie sei noch einmal richtig durch gestartet, sagte sie. Man müsse den Schmerz transformieren. Sie habe eine Boutique eröffnet. Aber nach zwei Jahren war sie finanziell ruiniert. Sie sei einmal so schön wie eine Diva gewesen, sagte sie. Sie hielt sich für nicht mehr schön, aber sie war eine hübsche Frau in ihren Jeans, der abgetragenen Strickjacke und den Gummistiefeln, mit langen Fingernägeln, die vom Erdbeerpflücken schmutzig geworden waren, eine Frau Mitte Fünfzig mit einer warmen Ausstrahlung.

Aber was sind unsere Erinnerungen mehr als die Schleimspur der Schnecke, die unten im Hausflur vertrocknet ist? Wir sind was wir sind. Wir werden nicht attraktiver, erfolgreicher und glücklicher, wenn wir der Vergangenheit nachhängen.

Ich stehe wieder auf und betrachte die Wohnung, die nicht mehr meine ist. Vor der Fensterfront steht jetzt ein langer Arbeitstisch. Jakobs Seite ist aufgeräumt, beinahe leer. Auf Jolandas Seite liegen Bücher, Papiere, Hefte und Ordner zu einem gefährlich schiefen Berg gestapelt, dazwischen Kaugummipackungen, Zutaten für Zigaretten, Kopfschmerztabletten. Wie durch ein Wunder kommt der Berg nicht ins Rutschen. Ihr Computer befindet sich im Standby.

Ich will nicht an das Alleinsein denken, aber es sind keine anderen Gedanken da. Morgen kann ich Leon treffen. Ich kann morgen auch Kolja treffen. Aber das meine ich nicht. Ich werde beiden absagen.

Ich fahre in meine Jeans, ziehe den Trenchcoat über und verlasse die Wohnung. Allein treibe ich durch die laute, helle Nacht. Das fühlt sich nicht gut an, aber besser, als den alten Schleimspuren zu folgen.

 

Kathrins Notiz-Blog 13. Juli 11

© Illustration Liane Heinze

Kolja hat mich zur Begrüßung nicht gelesen. Sonst überfliegt er mein Gesicht wie eine Titelseite, bevor er mich an sich drückt. Noch immer macht mich seine Aufmerksamkeit verlegen. Heute küsste er an meinen Wangen vorbei. Und holte für mich einen piefigen Hocker aus der Küche, ein Ding mit drei Löchern im Sitz. Sieht aus wie eine geplättete Bowlingkugel. Man kann nicht einmal damit kippeln.

Es geht um eine Wohnung in der Karl-Marx-Allee. Kolja hat sie umgebaut. Ich soll die Inneneinrichtung übernehmen. Es ist der beste Job, den ich jemals hatte, aber das gebe ich vor Kolja nicht zu. Die Wohnung gehört einem Musiker aus Dänemark. Er möchte sie möbliert vermieten und teilweise auch selbst nutzen, wenn er ein Gastspiel in Berlin hat. Er hat weniger die Touristen im Auge, als viel mehr die Leute, die nach Berlin kommen, um sich hier beruflich was aufzubauen.

„Aber…“

„Kein Aber“, sagt Kolja. „Ich weiß, was du sagen willst. Die Spanier, Italiener, Franzosen und Israelis, die in Berlin Jobs suchen, leben in Zelten, Gartenlauben oder zur Untermiete bei Freunden, die gerade in Tel Aviv und New York Jobs suchen.“

„Hast du ihm das nicht gesagt?“, frage ich.

„Ich bin Architekt“, sagt Kolja. Er hängt sich eine zerknitterte Zigarette in den Mundwinkel. Er klickt in dem Vertrag mit dem Dänen herum. „Und du bist kein Unternehmensberater oder Coach“, sagt er.

„Aber ich…“

„Wenn Geld keine Rolle spielt, sollte man nicht weiter fragen“, unterbricht mich Kolja. „Geh einfach davon aus, dass ihm dieses Projekt Spaß macht.“ Er sieht müde aus. Die Zigarette wippt in seinem Mundwinkel und krümelt auf die Tastatur. „Die Einrichtung soll geschmackvoll sein. Der Däne benutzte das Wort: distinguiert.“

Koljas Mutter hatte gesagt, dass Menschen uns ihre dritte Haut anvertrauen. Also muss ich doch etwas über sie in Erfahrung bringen, wissen, woher sie kommen und wohin sie wollen und wie sie sich selbst sehen. Natürlich bin ich dann auch eine Unternehmensberaterin und ein Coach. Andererseits scheint es mir logisch, wie Kolja nicht über das hinaus zu gehen, was im Auftrag vereinbart ist. Um mehr darf es gar nicht gehen. Ich MUSS mich an die Spielregeln halten. Aber sind nicht gerade die Erfolgreichen geübt darin, die Regeln zu brechen? Dieses Dilemma ist typisch für mich. Ich kann mich nicht entscheiden. Zu jedem Argument habe ich sofort ein oder zwei Gegenargumente im Kopf. Alle leuchten mir ein. Ich bewundere Menschen, die für EINE ganz bestimmte Sache eintreten und kämpfen. Das muss ihnen ein wunderbares Gefühl von Sicherheit geben. Vielleicht habe ich die Sache, für die ich eintreten könnte, einfach noch nicht gefunden. Aber mit Anfang vierzig sollte man so weit sein, oder? Liegt es vielleicht daran, dass ich mich nicht traue, für meine Überzeugung einzustehen, dass ich Angst habe, man könnte mich für verrückt halten, weil ich glaube, dass eine Inneneinrichterin auch Unternehmensberaterin und Coach ist? Ich kann die Dinge, mit denen wir uns umgeben, nun mal nicht von ihrer Bedeutung trennen. Ich kann Gedanken nicht von dem lösen, worauf sie sich beziehen, nämlich, WIE wir leben sollten. Wenn ich eine Haltung betrachte, dann immer im Raum. Zum Beispiel drückt es etwas über den Charakter der Europäischen Revolution aus, dass sich die Assamblea immer unter freiem Himmel trifft, auf einem der großen, öffentlichen Plätze der Stadt. Überall auf der Welt finden die Versammlungen der Demokratiebewegung auf der Straße statt. Koljas Mutter würde sofort verstehen, was ich meine. Sie würde sagen: „Probiere es aus! Lass dich überraschen.“

Kolja strengt sich an, unbeobachtet zu tun und so lässig wie möglich auf seine Tastatur einzuhacken. Die Asche krümelt auf seinen Arm.

„Ist deine Mutter immer so – offen und interessiert?“, frage ich. „Nein, nein, warte: offen und interessiert klingt total blöd. Sie ist noch anders. Sie ist – weise. Ich habe noch nie eine weise Frau getroffen.“

„Alle glauben, von ihr geliebt zu werden“, sagt Kolja.

„Dann spielt sie allen etwas vor?“

„Sie ist Schauspielerin“, sagt Kolja.

Es gibt diesen berühmten Satz von Romy Schneider: Im Leben bin ich eine schlechte Schauspielerin gewesen.

„Es gibt wenig Leute, die sie wirklich kennen“, sagt Kolja.

„Kennst du sie?“

„Ein bisschen“, sagt Kolja.

„Sie hat mich eingeladen“, sage ich.

Kolja zuckt die Schultern. „Seit Vaters Tod ist sie ein bisschen einsam da draußen. Möchtest du ein Foto von Ella sehen?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, holt Kolja das Foto auf den Monitor. Es zeigt ein durchsichtiges, verschrumpeltes, neu geborenes Gesicht. Ich glaube, dass Kolja eifersüchtig ist auf die vielen Leute, die sich von seiner Mutter geliebt fühlen. Es ärgert ihn, dass ich zu ihr gefahren bin.

„Kannst du Ellas Gesicht lesen?“, frage ich Kolja.

Er lacht und auf seinen Wangen erscheinen wieder diese Grübchen. „Da steht noch nichts geschrieben.“

„Doch, es steht schon was geschrieben“, sage ich. Damals habe ich Jolanda stundenlang und immer wieder angeschaut und vieles entdeckt, was sie aus ihrem kleinen Embryonenreich mit auf die Welt gebracht hat.

„Aber du siehst, dass ein Engel einen Finger auf ihren Mund gelegt hat, damit sie uns das Geheimnis nicht verrät.“ Kolja führt die Maus über die Kerbe unter Ellas Nase, die sich unter den Lippen fortsetzt: Der Abdruck des Engelfingers.

„Schade, dass wir diese guten Dinge bei der Geburt zurücklassen müssen“, sage ich.

„Es ist der erste Abschied unseres Lebens“, sagt Kolja. Er wendet sich von dem Bild seiner Tochter ab, zu mir. Er legt seine Hände auf meine Knie. Er muss sich dafür weit in dem Schreibtischsessel nach vorn beugen, weil der Hocker viel niedriger ist.

„Wie viele Abschiede hattest du bis jetzt?“, frage ich.

„Ich habe nicht gezählt“, sagt Kolja. „Viele. Sehr viele.“

Als ich mit den Entwürfen unter dem Arm nach Hause laufe, ruft Leon an. Er sagt, dass er heute Abend kommt. „Was möchtest du essen?“ frage ich. „Egal“, sagt er. Ich beeile mich, lege die Entwürfe zu Hause ab und mache mich gleich auf den Weg, etwas für uns einzukaufen.

Kathrins Notiz-Blog 5. Juli 11

© Illustration Liane Heinze

Jolanda ist schon in der Bibliothek, als ich komme. Ich packe meine Bücher auf den Tisch neben ihr und versuche zu lernen, aber ich kann mich nicht konzentrieren. Neben ihr sitzen und nicht reden können ist, wie in die offene Tüte Weingummi auf dem Nebentisch starren und nicht hineinlangen dürfen.

Mittags sitzen wir draußen vor der Mensa und trinken Kaffee. Jolanda hat die Beine auf die Bistrobank gelegt und blinzelt in die Sonne. „Wie geht’s deinen Männern? Sie machen dich beide nicht gerade glücklich, oder?“, sagt sie.

„Weiß nicht….Können Männer uns überhaupt glücklich machen?“, sage ich. „Sind es nicht eher die Frauen?“

Jolanda öffnet ein Auge halb wie jemand, der durch eine Jalousie linst, weil ihn ein Lärm draußen geweckt hat. „Hast du umgepolt?“

„Nein. Aber wenn ich zurück denke, war es schon immer so, dass ich die besten Gespräche mit Frauen hatte, von ihnen die schönsten Geschenke bekommen habe und ja…Frauen sind einfach interessanter. Aber es ist mir erst jetzt aufgefallen.“

„Manchmal dauert es eben länger. Wer ist es denn?, fragt Jolanda.

„Koljas Mutter.“ Ich erzähle ihr von der Begegnung. Jolanda kann nicht verstehen, wieso ich abends um acht mit dem Zug nach Müncheberg fahre, um bei einem fremden Menschen am Gartentor zu klingeln. Sie fragt, wieso ich stattdessen nicht zu Bertram und Ludwig gefahren bin.

„Intuition“, sage ich. „Bertram und Ludwig hätten mir in dieser Situation nicht helfen können. Sie sind zwar schwul, aber eben keine Frauen.“

Jolanda schaut unter einer runzligen Stirn hervor und lässt einen Laut verpuffen. Sie breitet ihr Rauchzubehör auf dem Tisch aus und dreht eine Zigarette. Sie hat kleine, feste Hände. Ihre Nägel sind grün lackiert.

„Ich liebe Männer“, sage ich. „Sie gehören dazu. Irgendwie. Ich weiß nicht warum, aber es ist so. Es ist ein Geheimnis. Ohne sie würde etwas fehlen.“

„Und in wen bist du nun verliebt? In Kolja? Seine Mutter? Oder vielleicht doch in Leon?“, fragt Jolanda.

„Das ist merkwürdig: Ohne Leon könnte ich Kolja nicht lieben. Ohne Kolja wäre ich seiner Mutter nicht begegnet. Und als ich ihr gegenübersaß, habe ich plötzlich gespürt, wie sehr ich Leon liebe. Es tat mir leid, dass ich ihn an diesem Abend allein gelassen hatte. Alle gehören zusammen. Die Begegnungen greifen ineinander, verzahnen sich mit meinem Leben. Das ist doch schön, oder? Wieso sehe ich unglücklich aus?“

Jolanda schaut mich streng an. „Ach, vergiss es, so schlimm ist es nun auch wieder nicht.“ Wahrscheinlich ist sie zu jung, das zu verstehen. Oder sie hat entschieden, es nicht verstehen zu wollen.

„Und du?“, frage ich. „Wie läuft es mit Jakob?“

Sie bläst den Rauch aus, schaut in die Wolken. Ihr Gesicht löst sich. „Ja“, sagt sie. Und noch einmal: „Ja.“ Jolanda enthüllt ihr Gesicht selten. Wenn es geschieht, bin ich jedes Mal gerührt. Aber heute bin ich ergriffen. Sie bemerkt es, senkt den Kopf, versteckt sich hinter dem Rauch, blickt wieder auf, strahlt. Das Glück ist nur so weit weg wie ein Bistrotisch breit ist. Diese Nähe löst in mir die Angst aus, es könnte weg flattern. Ich wage kaum zu atmen. Die Sonne brennt auf unsere nackten Schultern. Der Kaffee ist ausgetrunken. Ihre Zigarette dauert vielleicht noch zwei Minuten. Zwei Minuten noch, das Glück anzuschauen.

Kathrins Notiz-Blog 26. April 11

© Illustration Liane Heinze

„Diese christlichen Feiertage bedeuten uns doch nichts“, hatte Leon am Telefon gesagt. Für ihn waren es vier Tage, an denen die Garage geschlossen bleiben musste. Eine gute Gelegenheit, um sich mit Jan in den Niederlanden umzuschauen.

Am Karfreitag saß ich morgens in der Küche, las Zeitung, hörte Radio und trank Kaffee. Meine Füße auf dem Tisch wurden immer kälter, obwohl die Sonne darauf schien. Es war ein schmerzhaft schöner Tag. Er verursachte mir Herzrasen. Ich sehnte das Ende der Feiertage herbei, das Ende der Stille. Dabei hatte ich mich darauf gefreut, in Ruhe zu schlafen und in Ruhe meine Hausarbeit abzuschließen. Aber ich hatte keine Ruhe, keine Ruhe zu lesen, keine Ruhe nachzudenken. Ich ging nach draußen, um der Einsamkeit zu entkommen. Das grelle Licht schien wie geschwärzt.

Ich lief an geschlossenen Läden vorbei und überlegte, wen ich anrufen könnte, ohne dass es ein oberflächliches Palaver bleiben würde. Jolanda war mit Jakob nach Prag gefahren. Ich scrollte durch meine Telefonnummern. Kolja erschien in der Liste. Szenarien gingen mir durch den Sinn: Kolja mit seiner Frau im Flugzeug auf Osterreise. Kolja und seine Frau auf einem Waldweg. Kolja und seine Frau im Garten seiner Mutter. In dem Haus, in dem ich drei Tage gelebt hatte. Die Erinnerung brauste wie ein Balsam in mein Herz. Ich blickte auf und sah ein junges Paar mit Kindern, die ihre Eltern durch den Kiez führten. Die Straßen waren voller junger Paare mit Kindern und Eltern, die auf Besuch gekommen waren. Im nächsten Coffeeshop staute sich eine Familie. Ich stellte mich hinter der amorphen Menge an und wartete, betrachtete Erwachsene und Kinder. Es war nicht ganz klar, wer zu welcher Generation gehörte. Ich beneidete die Verkäuferin, weil es ein ganz normaler Tag für sie sein durfte. In ihrem Laden lief Barockmusik. Ich war von allen Feierlichkeiten ausgeschlossen. Kein Ostergras. Nirgends.

Kolja klang entspannt, träge. Er liege im Garten und lese. Ja, bei seiner Mutter. Ich sah ihn auf der Wiese vor dem Haus in einem der Liegestühle aus Holz und blau-weiß gestreiften, verschlissenen Baumwollstoff, aber er war mir seltsam fremd in diesem Familienidyll. Schon verflog meine Lust auf Osternester. Im Grunde verabscheue ich das gut bürgerliche, selbstgefällige Familienleben, besonders an den Feiertagen. Darin bin ich Leon wirklich ähnlich. Sofort sehnte ich mich danach, dass er neben mir stehen und seine Locken in die Stirn pressen und unruhig auf der Stelle traben und sich umschauen und „So!“ sagen würde, als Zeichen, dass es endlich weitergehen müsse.

„Dieses helle Grün“, sagte ich. „Es bekommt mir nicht. Ich bin kurz davor, wahnsinnig zu werden.“

Kolja erkundigte sich nach Leon. „Er ist nicht da“, sagte ich. „So!“ sagte Kolja, aber es klang ganz anders als das „So!“ von Leon. Bei Kolja klang es neutral, wie eine Bestandsaufnahme. Leon war nicht in der Lage, auch nur ein einziges neutrales Wort zu sagen, genauso wie er nicht in der Lage war, einen Satz einfach nur als Information zu begreifen. Er interpretierte alles sofort als ein „dafür“ oder „dagegen“, meist als ein „dagegen“.  Wenn er mit Menschen ins Gespräch kommt, die er noch nie vorher gesehen hat, hält er sich nicht mit Small Talk auf, sondern greift sie pauschal an (außer Frauen, die ihm gefallen). Die meisten kommen damit nicht klar.

Ich fragte nicht nach Koljas Frau, auch nicht nach dem Baby, das in wenigen Wochen geboren wurde, ein Mädchen. „Ich möchte dich gern sehen“, sagte ich.

Kolja knurrte wohlig und tief, wie ein Kater, der von einem Streicheln geweckt wird.

„Wohin soll ich kommen?“, sagte er.

„Zu mir nach Hause“, sagte ich.

„In zwei Stunden bin ich da“, sagte Kolja.

Ich habe den Fahrplan im Kopf. Die Züge nach Berlin fahren immer 14 Minuten vor der vollen Stunde. Es war 13:24 Uhr. In zweiundzwanzig Minuten würde Kolja in den Zug steigen. Was erzählte er seiner Familie, wo er so schnell hin müsste? Ich würde ihn nicht danach fragen.

Ich ging nach Hause und betrachtete die Wohnung mit Koljas Augen. Noch immer wird sie von Leon dominiert. Überall stehen seine Fahrräder. Mein Platz ist an dem Tisch in der Küche. Immerhin habe ich ihn auf seine maximale Länge ausgezogen. Auf dem Fensterbrett dahinter türmen sich meine Unterlagen und Bücher.

Ich betrat das Zimmer und schaute mit Koljas Augen auf das Bett. In dem Wandschirm dahinter funkelten die Wasserfarben im Sonnenlicht. Es würde unmöglich sein, mit Kolja in diesem Bett zu liegen. Es war der Ort, der Leon und mir gehörte, ein heiliger Ort.

Als Kolja am Bahnhof Lichtenberg aus dem Zug stieg, war ich da um ihn abzuholen. Er schlenderte über den leeren Bahnsteig, die Hände in den Taschen einer dunkelgrünen Leinenhose, mit einem Rotzjungen-Grinsen im gebräunten, blond gestachelten Gesicht. Gleich würde er mir sagen, dass er den Zug gekidnapped und zum Alex weiter gezwungen hätte, wenn ich nicht hier aufgetaucht wäre. Wir liefen die lange Schräge vom Bahnsteig hinunter. „Vielleicht ist das neurotisch“, sagte ich. „Aber ich kann es nicht bei uns zu Hause machen.“

„Du machst dir zu viele Gedanken“, sagte er und zog mich an den Schultern fester zu sich, eine kumpelhafte Geste, die ich nicht mochte. „Du nimmst dir alles zu sehr zu Herzen.“

„Kann man dagegen was tun?“, fragte ich.

Kolja machte auf der Höhe seines Herzens eine grabende Bewegung und krümmte sich. „Das Herz verkaufen“, sagte er und hielt es mir in der Schale seiner Hand hin. „Und durch einen Stein ersetzen.“ Er lachte eisig, dieser Holländer-Michel. Nicht lustig.

„Wir können zu mir gehen“, schlug Kolja vor, aber das mochte ich nicht. Plötzlich fiel mir ein, dass ich den Schlüssel zu Jolandas Wohnung hatte, die ja immer noch auch meine Wohnung war. Aber ich wollte sie zumindest vorher anrufen. Doch weder Jolanda noch Jakob gingen ans Telefon.

„Warum machst du alles so kompliziert?“ sagte Kolja.

„Würdest du es gut finden, wenn in deiner Abwesenheit….“

„Nein, aber warum gehen wir nicht zu dir?“

„Hab ich dir doch gesagt. Ich muss das trennen.“ Wir standen auf dem Bürgersteig.

„Du trabst wie ein Pony“, sagte Kolja.

„Was?“

„Ja, das ist süß.“ Er holte eine verbeulte Zigarette aus seiner Hosentasche.

„Das ist doch nur ein Trick“, sagte er. „Du belügst dich selbst, indem du versuchst, etwas zu tun und gleichzeitig nicht zu tun.“

„Gib mir mal einen Zug. Ich muss nachdenken.“ Ich nahm ihm die Zigarette aus der Hand. Eine Großfamilie schlängelte sich im Gänsemarsch um uns herum.

Von einem intelligenten Mann durchschaut zu werden, ist ein gutes Gefühl für eine Frau.

„So“, sagte ich. „Gehen wir.“

Die Sonne fiel warm ins Zimmer. Die Trommeln glitzerten. Ich öffnete die Fenster. Der Wind bewegte die Baumkrone im Hof. Von irgendwo wehte das trockene Geräusch von Klanghölzern. Ich zog mich schnell aus und setzte mich nackt neben Kolja auf das Bett. Er rauchte und schaute mich an. Er berührte mich hier und da, an den Brüsten, der Taille, dem Arm. Er zeichnete mit der flachen Hand den Bogen vom Po zu den angewinkelten Oberschenkeln nach. Seine Berührungen erregten mich nicht. Ich fühlte mich wie ein wertvoller Bildband, in dem Kolja hin und her blätterte, mit ästhetischen Vergnügen und der sinnlichen Neugierde auf das Geheimnis des Schönen.

„Erdige, knuffige Rundungen“, sagte er. „Würdest du essen, wärst du dick.“

„Ich esse“, sagte ich.

„Zu wenig“, sagte er. „Du darfst dir nichts vorenthalten. Nimm dir, worauf du Hunger hast.“

„Du bist wie eine Mutter“, sagte ich. Er grinste und wurde rot. Ich strich an seinem Bart entlang, der bei genauer Betrachtung nicht mehr blond, sondern grau war. „Wie ist es jetzt da draußen?“

„Schön“, sagte er. „Lenk nicht ab. Angezogen siehst du viel dünner aus. Warum versteckst du dich?“

Er stand auf. In der Küche warf er seine Zigarette in den Müll und wickelte einen Kaugummi aus dem Papier. Ich streckte mich auf dem Bett aus. Plötzlich war ich nicht mehr unglücklich, weil meine Beckenknochen nicht vorstanden und meine Brüste Beulen in den T-Shirts hinterließen. Bisher hatte mich beides geärgert.

„Wann fahren wir in das Haus?“ fragte ich.

„Wann immer du willst.“

Kolja trug nichts unter seiner Leinenhose. „Ziemlich gewagt“, sagte ich.

„Es ist Sommer“, sagte er. „Es ist heiß.“

„Noch ist kein Sommer“, sagte ich. „Ich kann das Sommergefühl kaum erwarten.“

Kolja betrachtete mich aufmerksam, die ganze Zeit. Durch den Schleier meiner Wimpern sah ich, wie er mich beobachtete, bis ich immer höhere Wellen schlug und ihn schließlich dicht an mich heranzog und mit meinen Beinen umarmte und wir zur Seite kugelten. Er röchelte wie ein Kranker, wie ein Sterbender.

 

 

Kathrins Notiz-Blog 14. April 11

© Illustration Liane Heinze

Als die Sonne am letzten Wochenende den Schmutz auf den Fensterscheiben bloßlegte, leuchtete sie auch in einige staubige Windungen meines Geistes. Dort flusten Zweifel: Dass es mit dem eigenen Büro nicht klappt. Bin ich überhaupt der Typ für so was? Hatte ich nicht immer schon das Problem, zu wenig präsent zu sein, in Gesellschaften, auf Fotos, in Arbeitskollektiven? Jolandas Bild der Trümmerfrau kam mir in den Sinn. „Ein Wesen ohne Namen. Verhärmt, grau, Asche“, hatte sie gesagt. Wieso höre ich nichts von Kolja? Wartet er darauf, dass ich erneut in seine Familien-Idylle einbreche? Glaubt er, weniger schuldig zu sein, wenn ich die Initiative ergreife?

Ich fühle mich von dem knalligen Grün in den Parkanlagen verhöhnt. Ich mag meine Lippenstifte nicht mehr. Wie von Sinnen ziehe ich durch Drogerien, probiere hier und da, als könnte eine neue Farbe auf meinen winterblassen Lippen das Problem lösen. Ich finde nichts. Keine Farbe passt zu mir. Ich bin draußen. Ich bin einundvierzig Jahre alt. Es ist längst zu spät für mich.

Ich habe Leon gebeten, zu bleiben, wenigstens diese eine Woche, bis es Sommer wird und mein Herz sich beruhigt. Er sagte, er müsse sofort zu Jan nach Amsterdam. Jan hätte ein Grove aus Amerika bekommen.

„Du hast doch schon ein Foto gesehen“, sagte ich. „Auf ein paar Tage kommt es doch nicht an.“

„Fotos zählen nicht“, sagte Leon.

Um nicht allein zu sein, verabredete ich mich am Mittwoch zum Arbeiten mit Jolanda in der Bibliothek. Sie paukt gerade Forensik. Ich schreibe an einer Arbeit über Gestaltungsmöglichkeiten von Räumen mit dem Ziel der Stromeinsparung.

„Die Garage“, sagte Leon am Mittwoch beim Frühstück. Er trank den Kaffee im Stehen. Er legte sich einen Schokoriegel auf sein Croissant. „Jetzt ist Hochbetrieb.“

„Das fällt dir ziemlich früh ein“, sagte ich.

„Könntest du…?“ Er trippelte nervös.

„Ich muss diese Arbeit nächste Woche abgeben und noch mindestens zweihundert Seiten zu dem Thema lesen.“

Er meinte, ich könne doch auch in der Garage lernen. So viele Kunden kämen ja doch nicht. Ich könne auf dem Hof in der Sonne sitzen. Es wäre doch alles da, was ich brauche: Kaffeemaschine, Internet, Licht.

In diesem Moment pustete ein Sturm die Staubflusen aus meinem Kopf. Ich wusste wieder ganz klar, was ich will. Ich sagte: „Nein.“

Er heulte auf. Es war das übliche. Jeder denke doch nur an seinen Arsch und ich bastele an meiner Selbstverwirklichung. Mit Jolanda würde ich doch eh nur in der Sonne sitzen und Kaffee trinken. Ich packte meine Sachen und knallte die Tür hinter mir zu.

„Das hättest du doch nun wirklich für ihn tun können“, sagte Jolanda, als wir mittags in der Mensa saßen.

„Ich kann doch nicht in dieser Garage arbeiten. Stell dir vor, du müsstest morgen in einer Garage arbeiten.“

„Stelle ich mir cool vor“, sagte Jolanda. „Dann hätte ich kein schlechtes Gewissen, wenn ich zwischendurch mal was anderes machen muss.“

In der Nacht rief Leon aus Amsterdam an. Er entschuldigte sich. Er sei nicht fair gewesen. Er sagte, er habe gesehen, dass es mir nicht gut geht und bemühe sich, so schnell wie möglich wiederzukommen. Es sei nicht so schlimm, wenn die Garage mal drei Tage geschlossen bliebe. Er fragte, ob ich gut gearbeitet hätte.

Heute und morgen sitze ich mit meinen Büchern und dem Laptop in der Garage. Bisher sind noch nicht viele Leute gekommen. Eine kaputte Lampe. Ein platter Reifen. Ein schlaffes Schaltwerk. Ich halte die Tür geschlossen, weil es so kalt ist und trinke Tee in kleinen Schlucken. Es tut mir gut, mit schmutzigen Fingernägeln zu lesen.