Kathrins Notiz-Blog 18. Juli 09


© Illustration Liane Heinze

Am nächsten Morgen servierte uns der Mann neben dem toten Hasen auf dem Küchentisch einen Kaffee. Er schlurfte in der Küche hin und her. Er schob die Tassen über den langen Tisch in unsere Richtung, so dass auch die Tassen schlurften. Auf seinen Fingern wuchsen dunkle Haare.

“Ist ihre Frau weg gelaufen, weil sie Pelztiere im Haus vergammeln lassen?“, sagte Leon.

Der Jäger hustete. Er räumte weiter Geschirr in einen Schrank.

„Ich hasse Jäger“, fauchte Leon und sah mich an. Ich trat ihm unter dem Tisch auf beide Füße.

“Dann essen Sie kein Fleisch?”, sagte der Mann. Er räusperte sich wieder und hustete, als hätte er sich plötzlich erkältet.

“Niemals Wild”, sagte Leon.

“Die anderen Tiere werden auch getötet”, brummte der Jäger.

“Aber niemand bekommt dabei eine Erektion”, sagte Leon. In diesem Moment wünschte ich, dass die Erde sich auftut und mich verschlingt.

Ich fürchtete um einen weiteren Zahn Leons, als der Mann sich zu ihm umdrehte. Er war kleiner als Leon, aber stämmig. Leon wich zurück. “Verschwinde”, zischte der Jäger. „Pack deine blasse Puppe ein und mach, dass du weg kommst.“

Wir sahen zu, dass wir ins Auto kamen. Leon ließ den Motor aufheulen und brauste vom Hof. Ich zog den Kopf ein.

„Das mit der Erektion war dumm, es war völlig daneben.“

Ist es nicht daneben, nachts durch die Wälder zu ziehen, Tiere zu erschießen und sie dann seinen Gästen vor die Nase zu legen? Das ist Masturbation. Du bist doch die Vegetarierin.“

„Er ist Jäger, na und. Ich bin Vegetarierin und er ist Jäger. Na und? Ist das ein Grund, sich an die Gurgel zu gehen?“

„Du mit deinem Love and Peace….“ Leon lässt das Lenkrad los, hebt die Arme und wiegt sich wie ein Hippie mit Feuerzeugen.

„Du mit deiner Masturbation. Toleranz. Das ist das Wesen der Zivilisation. Aber du kommst ja aus dem Wald.“

„Ja, ich komme aus dem Wald. Ich brauche keinen Jäger, kein zivilisiertes Rindvieh.“

Leon nahm die Autobahnauffahrt, fuhr an eines der Häuschen, zahlte die Maud und schloss das Dach. Die Luft über der Autobahn flirrte vor Hitze. Plötzlich waren wir in einer windstillen, klimatisierten Kapsel eingeschlossen, in einer anderen Welt. Ich glaubte fest daran, dass wir Leons Mutter heute treffen würden. Das war ja der Sinn unserer Suche. Deshalb hatten wir den Wagen gemietet, die Maud bezahlt. Nur aus diesem Grund verzichteten wir jetzt auf Sonne und Wind, schlossen uns in die Kapsel ein und fuhren immer weiter geradeaus zum Meer.

„Wie sieht deine Mutter aus?“

„Sehr einfach“, sagte Leon. „Sehr schön. Sie ist blond, nicht hellblond, aber blond, ihr Haar ist etwas rötlich. Sie trug die Haare immer kurz, wahrscheinlich hat sie Jeans an und flache Sandalen.“

„Und Schmuck?“

„Höchstens kleine Sachen, Perlen oder so.“

„Und Schminke?“

„Sie hat einen Lippenstift. Ich erinnere mich, wie sie ihn auftrug. Sie brauchte keinen Spiegel. Sie trug ihn im Café auf, im Zug, manchmal im Kino, auch wenn es dunkel war. Es war eine weiche, matte Farbe, hell, vielleicht wie…Erdbeeren. Wie dein Lippenstift.“

„Wann hast du sie zuletzt gesehen?“

Leon überholte, hupte und swingte zwischen den Spuren hin und her, dass mir schwindlig wurde. „Ist vielleicht fünfzehn Jahre her.“

„Fünfzehn Jahre?!“

„Wir sollten nach Sopot fahren“, schlug er vor. „In den Sommerferien ist sie oft mit uns dort gewesen.“

„Sie wird sich verändert haben. Hast du ein Bild?“

„Sie verändert sich nicht“, sagte Leon. „Sie hat sich nie verändert.“

„Lass uns anhalten“, bat ich. Leon fuhr an der nächsten Raststätte ab. Er rollte den Wagen in eine Parklücke, pappte die Locken in die Stirn und sah mich an. „Du bist blass! Ist alles in Ordnung?“

Ich klappte den Spiegel nach unten. „Ich bin nicht blass. Ich sehe genausso aus wie immer.“ Er fragte noch dreimal, ob es mir wirklich gut geht. Er öffnete mir die Wagentür, legte seinen Arm um meine Schulter. Er war noch nie so zuvorkommend, so höflich gewesen. Fünfzehn Jahre! „Hast du ein schlechtes Gewissen“, fragte ich.

„Wieso? Nein.“

Ich setzte mich auf das Geländer vor dem Bistro und trank den Espresso. Sofort fühlte ich mich frischer. Drüben auf der Autobahn fetzte ein Wagen nach dem anderen vorbei. Die Erde bebte. Die Rosen vor dem Bistro schwankten. Ich freute mich auf Leons Mutter. Sie zu suchen fühlte sich nicht anders an als zum Kaffeetrinken zu ihr zu fahren. Es war die Vorstellung, dass es sie gab, eine schmale, ältere Dame mit kurzen Haaren, flachen Sandalen, einer Perlenkette und einem erdbeerfarbenen Lippenstift, und dass ich ihr zum ersten Mal gegenüber stehen würde. Das ist das großartige, wenn man sich kennenlernt: Man gewinnt nicht nur einen Menschen dazu, sondern eine ganze Familie.

Leon kam von der Toilette. Er nahm meinen Becher und schleckte den Zuckersatz vom Boden. „Ich hatte nicht mehr den Mut, zu ihr zu fahren“, sagte er. „Du hast mir den Mut zurück gegeben.“

Plötzlich war vom Parkplatz ein Knall zu hören. Kurz darauf ein zweiter. Es klang wie Schüsse. Leon stürzte zum Parkplatz. Ich folgte ihm. Der Jäger stand drüben an der Auffahrt, grinste und hob einen Stinkefinger. Leon stürzte ihm nach, doch er stieg lässig in seinen grauen Lieferwagen und machte sich davon. „Ich zeige dich an, du miese, kleine Ratte.“ Leon boxte auf das Dach unseres Wagens. Beide Hinterreifen waren platt.

„Ich wusste es“, zeterte Leon. „Wieso haben wir hier angehalten?“

Ich sah die platten Reifen, aber ich hatte keine Angst, nicht die Spur. Ich war glücklich, und dieses Glück war so groß, dass mir nichts Schlimmes mehr passieren konnte. So lange ich lebte, nicht.

Wir setzten uns auf das Geländer vor dem Bistro, knabberten Kekse und warteten. Leon tänzelte auf und ab. Er stieß mit den Fußspitzen gegen imaginäre Wände, die ihn zum Umkehren zwangen. Der Käfig in seinem Kopf bildete den Raum um ihn. Die Wände verrückten ihre Position nicht. Ein kleiner, untersetzter Polizist kam vom Parkplatz herüber gewackelt. Er zerrte an der Knopfleiste seiner Uniformjacke. Wahrscheinlich war sein Unterhemd nass geschwitzt. Er hieß uns mit einer Kopfbewegung in das Bistro zu gehen. Er tupfte den Schweiß von den Wangen. Er zog einen zerknautschten Notizblock aus seiner Brusttasche und ließ sich den Hergang der Tat schildern. Er nuschelte. Wir hatten die Nummer des grauen Lieferwagens so schnell nicht lesen können. Wir wussten nicht, wie der Jäger hieß, nur den Ort, in dem er lebte. Der Ort hieß Wda. Wir müssten dorthin zurück fahren, um Ihnen das Haus des Jägers zu zeigen, sagte Leon. Es war nicht so weit von der Autobahn entfernt. Der Polizist wollte wissen, was passiert ist, was wir dem Jäger getan haben. „Wir haben ihm nichts getan“, sagte Leon.

Wir rumpelten in dem stickigen Polizeiwagen zurück nach Wda. Der Jäger war nicht zu Hause. Wir gingen mit dem Polizisten im Gasthaus etwas essen. Als wir zurück an das Gehöft kamen, war das Tor noch immer verschlossen. Der Polizist rüttelte daran. Nichts.

„Warten wir“, sagte er. Wir setzten uns in den Polizeiwagen.

Kathrins Notiz-Blog 17. Juli 09

© Illustration Liane Heinze

Wir haben einen ganzen Nachmittag am Flussufer verbracht. Wir lagen auf den Kieseln am Ufer in der Sonne.

Die Bäume wurzeln unsicher am Fluss. Ihre Zweige schwanken auf den Wellen. Sie suchen Halt auf dem Wasser. Sie suchen Halt am Himmel. Sie suchen Halt aneinander. Sie haben nichts als ihr Holz. Die Schiffe ziehen vorüber. Als ich die Bäume am Fluss sah, wusste ich, dass wir weiter nach Leons Mutter suchen müssen.

Leon vergrub seine nackten Füße im Sand.

„Vielleicht ist sie bei Paul?“

Er schüttelte den Kopf. Eines war uns klar: Sie würde nie wieder zu dem Mann zurückkehren, der ein kleines, zähes Geräusch mit seinem Bart machte.

„Lass uns zur Ostsee fahren. Sie liebt das Meer“, sagte Leon.

Wir brachen sofort auf. Während Leon einen Wagen besorgte, rief ich Jolanda an. Sie kicherte. Jemand kitzelte sie, während sie telefonierte. Im Hintergrund krakeelten ihre Freunde. „Wir lernen.“ Sie gluckste.

„Ist ein Brief vom Arbeitsamt gekommen?“

„Ist mir nicht aufgefallen.“

„Was heißt ‚aufgefallen’? Etwas Unauffälligeres als einen Brief vom Arbeitsamt kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Unauffällig und  böse.“

Jolanda schnaufte. „Warte, ich schau in den Zeitungen nach.“

Ich hörte Papier rascheln und Musik. Plötzlich sehnte ich mich nach ihr. Es macht mich glücklich, wenn Jolanda kichert. Es ist kein Klein-Mädchen-Gegacker. Ihr Kichern hat Raum und Wärme. Wenn Jolanda kichert, muss ich immer an diese weichen, dunklen Gummitiere denken, die man zwischen den Zähnen halten und langziehen kann. Ihr Kichern macht süchtig.

„Keine Sorge. Nix gekommen.“

Wir fuhren mit offenem Dach zwischen Rapsfeldern hindurch. Der Wind peitschte die Haare gegen die Wangen. Leon steuerte den Wagen. Ich legte meine Hand in seinen Nacken. Wir sprachen nichts. Wir waren angekommen, auf dieser Fahrt, auf dieser Landstraße, auf dieser Suche.

Spät am Abend fanden wir ein Zimmer in einem Gehöft in einer kleinen Ortschaft. Auf dem Hof lebte ein Mann allein. Auf seinem Küchentisch lag ein toter Hase.

Er reichte uns den Schlüssel. Wir krochen in das kalte Bett. Leon zog meinen Po an seinen Bauch. Ich betrachtete die Sterne über der Halbgardine aus Spitze und wartete auf den Schlaf. Mein Herz pulste gegen das Laken.

Ich wollte schauen, was der Mann in der Küche machte und wand mich vorsichtig aus Leons Armen. Er war sofort wach, wie immer, wenn ich meinen Po von seinem Bauch löse. „Was ist?“

„Kann nicht schlafen.“ Ich öffnete die Zimmertür und blickte hinaus in den Hof. Alle Fenster waren dunkel. Hinter einem der vielen Fenster hockte der Mann, wahrscheinlich schlaflos. Der Hase auf dem Tisch kühlte indessen weiter aus.

„Jetzt kann ich auch nicht mehr schlafen“, jammerte Leon.

„Na komm, es wird gehen.“ Ich huschte zurück ins Bett, platzierte meinen Po wieder an der richtigen Stelle und wartete. Leon schnarchte leise.

„War sie Tänzerin?“, fragte ich.

„Sie war Hochseilartistin.“

„Im Zirkus?“

„Ja.“

„Sie hatte einen Wagen?“

„Schlaf jetzt.“

Kathrins Notiz-Blog 15. Juli 09

© Illustration Liane Heinze

Die Wände des Aufzugs waren mit bunten Tags besprüht.

Im 7. Stock stiegen wir aus. Der Gang war so eng, dass wir zu zweit geradeso hindurch passten. Ruß verstopfte die Poren der Betonwände. Eine Wohnungstür stand offen. Ein Mann quoll aus dem Rahmen. Er stemmte die Arme in die Tür und blickte uns entgegen. Er kaute auf seinem Oberlippenbart. Das macht ein kleines, zähes Geräusch. „Sie ist nicht da“, sagte er. Leon fragte nicht, wohin seine Mutter gegangen war. Er nickte und trat einen Schritt zurück und stieß mit den Fersen an die Betonwand gegenüber.

Wir liefen in die Stadt und suchten Leons Mutter in den Läden der Hauptstraße. Auf einmal glaubte Leon, sie drüben im Gewühl vor einem Kaufhaus entdeckt zu haben. Er sprang auf die Straße, wand sich zwischen hupenden Autos hindurch. Seine Locken beschrieben einen Zick-Zack-Kurs über den Autodächern. Wenig später war er mit der Menge, die auf den Schlund des Kaufhauses zu trieb, verschmolzen.

Ich folgte ihm an der Ampel über die Straße, wühlte mich durch die schlendernden Einkäufer, rollte durch die Etagen des Kaufhauses. Überall hielt ich nach Leons hastigen Bewegungen Ausschau, suchte in den Gesichtern der Frauen nach seinen leicht vorstehenden, schattigen Augen. Ich fuhr hinauf und wieder hinunter.

Es blieb mir nichts anderes übrig, als draußen zu warten, an einer Stelle, an der Leon mich finden könnte, vor dem Kaufhaus. Ich setzte mich auf einen Schaufenstersims und schaute, wie die Passanten aneinander vorbei liefen, ohne sich zu berühren, wie sie durch sich hindurch schauten. Als Leon nicht kam, beschlich mich die Angst, bis an das Ende meines Lebens in dieser Menge zu treiben, ohne ihn jemals wiederzusehen, weil er von nun an in der ganzen Welt seine Mutter suchen und mich vergessen würde. Als er vor mir stand, außer Atem, als er Mineralwasser in seine Locken kippte und neben mir auf den Sims fiel, begriff ich, dass er es ist, der mich davor schützt, in der Menge verloren zu gehen, ohne Namen und ohne Gesicht.

Er sagte nichts. Ich griff nach seiner Hand.

„Und früher?“, fragte ich dann. „War sie früher für dich da?“

Er malträtierte die leere Plastikflasche, presste die Luft daraus hervor. „Wenn sie von einer Tournee kam, brachte sie uns Geschenke mit. Der Tisch füllte sich an diesen Abenden mit Dingen, die von weither kamen, aus anderen Städten, in anderen Ländern. Sie duftete. Es war immer derselbe frische Duft, ich glaube, es war das Meer. Wir hatten das Meer noch nie gesehen. Aber wir ahnten, das musste sein Duft sein. Solange sie da war, roch es in dem Haus aus Pappe nach Meer.” Die Plastikflasche brach, als Leon versuchte, sie zusammen zu rollen. „Sie kam nur für wenige Tage, um sich auszuruhen. Sie schlief dann viel. Wir durften sie nicht stören. Wenn sie wieder auf Reisen ging, freuten wir uns auf ihre Heimkehr, wie sie singen und tanzen und duften würde, und auf die Geschenke. Sie jagte die Welt und brachte sie uns als Beute nach Hause.“

Ich legte meinen Kopf an Leons Brust. „Erzähl weiter.“

Leon nestelte an meinem Gürtel. Er schob seine Hand in meine Jeans. „Ich habe Lust auf dich“, sagte er leise. „Komm, ich weiß einen Ort.“

Aber ich wollte da bleiben, an ihn geschmiegt. „Jetzt ist es gut“, sagte ich. „Es gibt keinen besseren Ort.“

„Wie wäre es im Kaufhaus im Aufzug? – Na komm!“ Er stand auf. Er war wie besessen von dieser Idee. Er ließ meine Hand nicht los.

„Na gut: Wir suchen ein offenes Auto.“ Er zog mich fort, tänzelte an den Rand des Bürgersteigs. Er klinkte an einigen geparkten Autos. „Siehst du, das interessiert gar niemanden. Und falls zufälligerweise eins offen ist….“

„Und wenn der Besitzer kommt?“

„Diese Vorstellung macht mich an,“ sagte Leon. Er warf mir vor, nicht genug spontan zu sein und kein bisschen abenteuerlustig.

“Hältst du das für das Leben?”

“Ja, ja, ja”, antwortete er. Gejagt von der Angst, nicht genügend zu leben, nicht in vollem Maß zu lieben. Wie ich. Nur anders.

Kathrins Notiz-Blog 13. Juli 09

© Illustration Liane Heinze

Immer, wenn Jolanda und ich keine Lust zum kochen haben, gehen wir in den Orient-Tresen unten im Haus. Heute hatte ich mich mit Jolanda verabredet, weil wir uns in letzter Zeit so selten sehen. Ich weiß gar nicht mehr, was bei ihr los ist, wie es in der Schule läuft und ob sie Sören noch liebt. Nachmittags ist der Laden meist leer. Während ich auf sie wartete, plauderte ich mit dem Verkäufer über das Wetter. Der Verkäufer war erstaunt, dass ich „schon“ ein Kind habe, dabei kennt er Jolanda und mich, seit wir hier im Haus wohnen. Vielleicht hielt er uns bisher für Schwestern. Es kommt öfter vor, dass uns jemand für Schwestern hält.

Jolanda sieht mir ähnlich. Sie sagt, wir hätten wissende Steinkauz-Augen. Ich habe mir im Internet Steinkäuze angeschaut und kann das nicht bestätigen. Wenn Jolanda einen Raum betritt, greifen alle Anwesenden heimlich in ihre Taschen und prüfen, ob sie ihre Ausweise dabei haben. Jolanda schaut und bewegt sich schon jetzt wie eine Detektivin. Lautlos, aber extrem auffällig. Wenn sie einen Raum betritt, spürt man sofort ihre Spannung, ihren Konflikt, alles über die Anwesenden heraus finden zu wollen, ohne auch nur das geringste von sich selbst preiszugeben. Als Jolanda endlich kam und ihre Schultasche auf die Holzbank warf, glaubte der Kurde hinter dem Tresen nicht, dass sie meine Tochter ist. „Es ist wahr.“ Ich hob zum Schwur zwei Finger. Er wurde ernst. Er schüttelte den Kopf und wandte sich beleidigt ab. Wir hörten ihn in der Küche diskutieren. Dann kam sein Kollege nach vorn, um unsere Falafel aus dem Öl zu fischen.

„Vielleicht sollten wir in Zukunft überall sagen, dass wir Schwestern sind, damit niemand denkt, wir wollen ihn auf den Arm nehmen.“

„Kein Problem“, sagte Jolanda.

Sie wies mich darauf hin, dass sie gleich mit Sören im Milchgesicht zum Lernen verabredet wäre. Es bedeutete, dass ich mich kurz fassen sollte.

„Warum bist du schon wieder so ungeduldig? Ich wollte nur hören, wie es dir geht und dir sagen, dass ich für ein paar Tage mit Leon verreise.“

Jolanda blitzte vor Begeisterung über den Rand des Fladenbrotes.

„Kann ich mich auf dich verlassen?“

Sie verdrehte die Augen. „Nein, ich mache mir noch in die Hosen.“

„Du müsstest mich sofort anrufen, falls ein Brief vom Jobcenter kommt.“

„Kein Problem.“

Es schien Jolanda nicht zu interessieren, wohin wir fahren, wie weit ich mich von Zuhause entfernen würde, das heißt, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass ich unverhofft wieder auftauchte. „Wir besuchen Leons Mutter“, sagte ich.

„Schön.“

„Sie lebt in in Polen, in einer kleinen Stadt nicht weit von Torun.“

Jolanda nickte. „Mach dir keine Sorgen. Ich halte hier die Stellung.“ Sie mampfte ihre Falafel und hielt die Kurden in der Küche im Auge.

„Findest du es beleidigend, wenn jemand sagt: Ich verstehe dich?“

„Hä?“

„Ich meine, kannst du dir vorstellen, dass jemand gar nicht W I L L, dass ein anderer ihn versteht?“

Jolanda ließ das Fladenbrot sinken. Sie starrte in den Raum. Ihr Mund stand offen. „Wir sagen doch andauernd: Verstehe. Verstehe. Das ist genauso eine Floskel wie die Frage: Wie gehts? obwohl uns das gar nicht interessiert. Natürlich verstehen wir gar nichts, da können wir hundertmal sagen: Verstehe. Wenn Leon seinen Schmerz ernst nimmt, geht ihm das auf die Nerven, klar.“

„Ich sage nicht andauernd: Verstehe! Verstehe! Ich habe gesagt: ‚Ich verstehe dich‘, und ich verstand ihn in diesem Moment wirklich.“
„Dann glaubt er dir eben nicht. Kann ich verstehen.“
„Wieso?“
„Weil es Dinge gibt, die du nicht verstehst.“

Ich hatte in diesem Moment keine Lust auf eine kritische Analyse meiner Erziehung. Zu diesem Zweck hat sie mit ihren Freundinnen eine Art Geheimbund gegründet. Was dort geschieht, weiß ich nicht so genau, außer, dass sie süße, alkoholfreie Cocktails saugen, und Schritt für Schritt ihre Kindheit aufarbeiten, indem sie die Fehler ihrer Eltern auswerten.

Kathrins Notiz-Blog 6. Juli 09

© Illustration Liane Heinze

Gestern erzählte Leon, dass er in einem Haus aus Pappe geboren wurde, am Rand einer unbedeutenden Stadt. Dort hatte er mit seiner Mutter und seinem Bruder Paul gewohnt. Wenn die Kinder in der Schule Leon oder Paul kommen sahen, spotteten sie: ‚In meim Salon im Karton wächst der Schwomm.’

Leon hatte sich geschworen, das Haus aus Pappe und die unbedeutende Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Mit sechzehn Jahren gründete er die Band Blamage. So hatte er begonnen, seine Flucht vorzubereiten. Blamage zog übers Land. Eines Tages waren sie nach Berlin gekommen. Leon gefiel es hier. „Das Publikum war neugieriger, offener.“ Er hatte die Jungs und die Sängerin von Blamage überreden können zu bleiben. Leon war noch nicht volljährig, als er eine Arbeit als Koch fand. Allerdings kochte er selten. Die meiste Zeit spülte er Geschirr. Leon schrieb seiner Mutter einen Brief. Er lud sie nach Berlin ein. Sie hörte ihren Sohn in den Clubs spielen, reiste aber bald wieder ab. Sie fand seine Musik zum Tanzen nicht geeignet.

„Wann spielst du für mich?“, fragte ich.

„Gleich“, sagte Leon. Es klang müde. Er hatte sich auf den Dielen neben dem Schlagzeug lang gemacht.

„Ich würde das Haus aus Pappe gern sehen“, sagte ich.

„Es steht nicht mehr“, sagte Leon. „Sie haben es weg gerissen und einen Parkplatz dorthin gebaut, und Plattenbauten.“

„Schade. Und deine Mutter? Und Paul?“

„Meine Mutter lebt noch dort, in einem Plattenbau. Paul ist auch weggegangen. Alles hat sich verändert. Meine Kindheit wurde platt gemacht.“

„Niemand kann dir die Kindheit nehmen. Sie ist da. Du hast sie erlebt. Sie ist in dir drinnen. Und du teilst die Erinnerungen mit Paul und deiner Mutter.“

„Du weißt nicht, wie es ist, in einem Haus aus Pappe zu leben“, sagte Leon. „Man erinnert sich nicht gern.“

Ich wusste nicht zu antworten. Ich verstand jetzt Leons Unsicherheit, sein Gefühl, nirgendwohin zu gehören. „Ich habe in einem Haus aus Stein gelebt, aber denk nicht, dass das immer einfach war. Trotzdem: Ich kann verstehen, dass die Erinnerung dich nicht nur glücklich macht, dass du manchmal traurig und wütend bist und dich benachteiligt fühlst. Ich kann das verstehen.“

„Du kannst es nicht verstehen. Du hast nichts erlebt. Du weißt nichts“, sagte Leon. Getroffen! Die Kugel durchbohrte meinen Magen. Ich habe mir niemals ein einfaches Leben gewünscht. Ich habe immer nur eins gewollt: Das Leben kennenlernen. Die Dinge verstehen.
Ich schnappte meine Tasche und ließ ihn da unten neben seinen Trommeln liegen. „Lass mich in Ruhe, ja.  Ich habe keine Lust auf dein beschissenes trauriges Papp-Dasein und deine Schulden.“ Weg war ich.

Ich war froh, dass Jolanda nicht zu Hause war, dass niemand Fragen stellte und alles vorbei war. Von der Straße wehte Lärm aus den Restaurants und Bars. Ich brauche diesen Lärm, ich habe ihn nie so sehr gebraucht wie gestern Abend. Ich brauchte den Sommer, die Hitze und die Leute auf der Straße, die vor Fröhlichkeit kreischten. Ich hatte genug von Leons Schwermut.

Spät in der Nacht rief Jolanda aus dem Ausland an, um mir zu sagen, dass sie bei Sören übernachtet. Sie fragte, ob ich allein bin. „Der erste Streit?“

„Es geht nicht“, sagte ich.

„Verstehe“, sagte sie. „Bleib entspannt.“

Leon klingelte gegen vier. Ich zuckerte ihm die letzten Erdbeeren. Er aß sie mit den Fingern. Im Stehen.

„Liebst du mich?“, fragte Leon.

Ich nickte, aber ich schaute ihn nicht an dabei.

„Glaubst du, dass wir es schaffen, respektvoll miteinander umzugehen?“ Er nahm meine Hand und streichelte sie und machte sie ganz klebrig. Ich nickte wieder. „Bitte sag nie mehr, du könntest mich verstehen. Das ist wie eine Beleidigung, weil du mich nicht verstehen kannst. Es ist eine Lüge.“