Kathrins Notiz-Blog 14. Juni 11

© Illustration Liane Heinze

Ich mag die Worte RICHTIG und FALSCH nicht, aber wenn ein Mensch geboren wird, darf man nicht traurig sein. Es ist falsch. Es ist schief. Kolja soll es nicht spüren. Er strahlt am Telefon. Seine Tochter heißt Ella. „Sie sieht mir ähnlich“, sagt er stolz und jetzt muss ich sogar grinsen, schadenfroh, weil ich mich an Jolandas Geburt erinnere. „Das wird sich ändern“, sage ich.

Ich suche einen Platz für meine Traurigkeit. Vielleicht wäre alles nicht so schlimm, wenn ich nicht entdeckt hätte, dass auch Leon in Verviers ein zweites Leben führt. Vielleicht ist es sogar sein wahres Leben und ich erfülle hier nur noch die Funktion einer Basis-Station.

Auf den Stufen des Alten Museum treffe ich auf die spanische Versammlung der Demonstranten gegen den Ausverkauf Europas, die Assamblea. Ich setze mich zu ihnen, lausche den Reden, lasse sie mir übersetzen. Statt zu klatschen, wedeln die Mitglieder der Assamblea schnell mit den Händen. Die Rede ist von einfachen Dingen. Ein junger Mann sagt, dass es in dieser Diktatur des Geldes nicht mehr möglich sei, das zu leben, was uns in unserem Menschsein ausmacht, unsere Individualität, Schwachheiten, Nachdenklichkeit und die Fähigkeit zu träumen. „Wir möchten eine Zukunft in Frieden“, sagt eine junge Frau. „Wir möchten genügend zu essen haben, arbeiten und tanzen und Kinder haben.“ Ich wedele mit den Händen. Ein Mann aus Griechenland erzählt von den brutalen Übergriffen der Polizei in Athen. Er sagt, die griechische Polizei sei die grausamste des Kontinents. Kranke Migranten trauten sich nicht in medizinische Behandlung, aus Angst davor, aus dem Land verjagt zu werden. Eine amerikanische Touristin erzählt von den Demonstrationen in den Staaten. Händewedeln.

Es ist warm und lange hell. Die Assamblea endet erst mit Einbruch der Dunkelheit. Zieht ein Gewitterregen auf, flüchten wir unter das Vordach des Museums. Zwischen den antiken Säulen wird weiter über den Zustand und die Zukunft Europas geredet. Ich setze mich zu Füßen einer Säule und blicke über den Lustgarten. Ich denke an Ella und meine Traurigkeit wird süß wie eine überreife Erdbeere.

Kathrins Notiz-Blog 12. Mai 2011

© Illustration Liane Heinze

Nachdem Kolja gegangen war, spürte ich eine schmerzhafte Sehnsucht nach Leon, kein schlechtes Gewissen, aber den Wunsch, mit ihm zu sein, weil er niemals ging, sondern jeden Abend anrief, egal, ob er in Amsterdam war oder in Brüssel oder in irgendeinem belgischen Dorf. Weil er mich brauchte. Ich rief Leon an. Er war nicht mehr in Amsterdam. Er war weiter gefahren, nach Verviers.

Eine ganze Nacht lang war ich unterwegs, bevor der Zug morgens durch eine enge Felsenschlucht und wenig später in dem kleinen, quirligen Bahnhof von Verviers einfuhr. Leon auf dem Bahnsteig hatte Ringe unter den Augen. Sein Hemd war schief geknöpft. Ich musste auf der Plattform des Zuges warten, denn eine starke, in ein safrangelbes Gewand gewickelte Frau brauchte fast den gesamten Aufenthalt des Zuges, um Lederkoffer und karierte Gepäckbeutel aus dem Zug zu reichen, ein riesiger Berg an Gepäck. Ihr Mann auf dem Bahnsteig nahm sie entgegen und baute den Berg draußen wieder auf. Daneben warteten ihre Kinder. Ich überlegte, ob ich die Frau um den Mann, die Kinder und das Gepäck, um diese Fülle von Leben, an der sie schleppte, beneidete.

Leon pappte die Locken in die Stirn, küsste mich fahrig und zog mich rasch hinter sich her. „So!“, sagte er vor dem Bahnhof und räusperte sich mehrmals nervös. Das erste Mal reiste ich zu ihm, wenige Stunden nachdem ich mit Kolja geschlafen hatte, doch sofort übernahm er unseren gewohnten Rhythmus. Leon schien die Veränderung an mir nicht wahrzunehmen.

Wir erreichten ein kleines Hotel an einem belebten Boulevard. Die Dame an der Rezeption lächelte Leon freundlich an. Sie begrüßte ihn schon von weitem mit Namen. Das Gesicht unter der gelackten Frisur bekam einen warmen Ausdruck, als empfange sie in ihrem Reihenhäuschen zu Weihnachten einen lieben Gast. Sie löste sich schlank von der Wand am Tresen und reichte Leon den Schlüssel, ohne mich anzuschauen. Leon erwiderte ihre Freundlichkeit nicht. Er nahm den Schlüssel und zog mich hastig weiter zum Aufzug.

Ich stellte meine Tasche im Zimmer ab. Die Sonne war verschwunden. Die Gardinen erzeugten ein kalkiges Licht im Raum. Ein herannahendes Gewitter verdichtete die Luft.

Leons Hand fühlte sich schwer und warm an. Ich legte sie an meine Wange. „Was ist?“, flüsterte er. Ich schüttelte den Kopf. „Gar nichts.“ Er setzte sich auf die Bettkante und schaute mich endlich an. Seine Hände lagen auf meinem Po, aber er hielt die Distanz und betrachtete mich weiter. Jetzt fiel ihm auf, dass ich verändert war. „Du siehst müde aus“, sagte er. „Steht dir gut, diese Erschöpfung.“ Es war aber nicht die Erschöpfung, sondern die wieder gewonnene Fähigkeit, in alle Himmelsrichtungen zu denken.

Ich begleitete ihn zu einem Fahrradhändler auf ein kleines Dorf. Während die Männer arbeiteten, lag ich draußen auf der Wiese und versuchte, Jun’ichiro Tanizakis „Lob des Schattens“ weiter zu lesen. Immer wieder schweiften meine Augen in der schwülen Wärme ab, durch einen Wald aus Grashalmen und Gänseblümchen blickte ich auf den grauen Putz des Hauses hinter der verlassenenen Dorfstraße. Ich dachte an die Frau am Tresen. Immer wieder lief der Film ihrer rätselhaften Freundlichkeit bei unserer Ankunft im Hotel vor meinen Augen ab und wie Leon ihr auswich. Ich war sicher, dass er nichts mit ihr hatte und dennoch eifersüchtig.

Am Abend spazierten den Boulevard hinauf. Wir gingen in ein kleines, orientalisch eingerichtetes Bistro, das Pommes Frites in zirka vierhundert Variationen anbot. Während wir die Pommes aßen, lief im Radio eine Ostermesse. Leon begann, auf die Heuchelei des Papstes zu schimpfen, der immer noch Kondome verbot. Die Pommesbäcker hinter dem Tresen gaben ihm Recht. Man wisse ja, dass die Ringe der Kinderschänder bis in den Vatikan reichen, murmelte ein rothaariger, blasser Mann in den Fünfzigern neben uns in seinen heißen Frittenberg. Die Polizei sei bestochen, sonst würde man die Verbrecher doch endlich finden, rief ein kleiner, kugliger Mann aus der Ecke. Es habe doch schon so viele gegeben, die denen auf der Spur gewesen seien. Schließlich mischten sich alle in das Gespräch. Katholische und muslimische Belgier schimpften gemeinsam mit Leon auf den Papst. Draußen begann es heftig zu regnen. Der Regen trommelte auf die Markise. Autoreifen schmatzen hell über den Asphalt. Das Bistro verwandelte sich in eine helle, von den Frittiermaschinen aufgewärmte Insel.

„Habe ich es dir nicht gesagt?“ Leon tänzelte mit einer Zeitung auf dem Kopf die Straße hinab. Er hatte mir sein Jackett gegen die kühle Regenluft gegeben. „So etwas wirst du in Berlin nie erleben.“ Ich wusste jetzt, warum ich auf die Frau am Tresen eifersüchtig war. Die Atmosphäre dieser Stadt passte Leon wie angegossen. Klatschnass kamen wir im Hotel an und krochen unter die heiße Dusche. Ich fürchtete, dass das Neonlicht im Badezimmer mich bloß stellen, dass Leon jetzt sehen würde, was geschehen war, aber er dampfte und stöhnte, seifte und schrubbte an sich und mir herum, eine Tortur, die jede Spur verwischte. Niemals würde ich ihn überrachen können. Er war der launenhaftere von uns.

Kathrins Notiz-Blog 26. April 11

© Illustration Liane Heinze

„Diese christlichen Feiertage bedeuten uns doch nichts“, hatte Leon am Telefon gesagt. Für ihn waren es vier Tage, an denen die Garage geschlossen bleiben musste. Eine gute Gelegenheit, um sich mit Jan in den Niederlanden umzuschauen.

Am Karfreitag saß ich morgens in der Küche, las Zeitung, hörte Radio und trank Kaffee. Meine Füße auf dem Tisch wurden immer kälter, obwohl die Sonne darauf schien. Es war ein schmerzhaft schöner Tag. Er verursachte mir Herzrasen. Ich sehnte das Ende der Feiertage herbei, das Ende der Stille. Dabei hatte ich mich darauf gefreut, in Ruhe zu schlafen und in Ruhe meine Hausarbeit abzuschließen. Aber ich hatte keine Ruhe, keine Ruhe zu lesen, keine Ruhe nachzudenken. Ich ging nach draußen, um der Einsamkeit zu entkommen. Das grelle Licht schien wie geschwärzt.

Ich lief an geschlossenen Läden vorbei und überlegte, wen ich anrufen könnte, ohne dass es ein oberflächliches Palaver bleiben würde. Jolanda war mit Jakob nach Prag gefahren. Ich scrollte durch meine Telefonnummern. Kolja erschien in der Liste. Szenarien gingen mir durch den Sinn: Kolja mit seiner Frau im Flugzeug auf Osterreise. Kolja und seine Frau auf einem Waldweg. Kolja und seine Frau im Garten seiner Mutter. In dem Haus, in dem ich drei Tage gelebt hatte. Die Erinnerung brauste wie ein Balsam in mein Herz. Ich blickte auf und sah ein junges Paar mit Kindern, die ihre Eltern durch den Kiez führten. Die Straßen waren voller junger Paare mit Kindern und Eltern, die auf Besuch gekommen waren. Im nächsten Coffeeshop staute sich eine Familie. Ich stellte mich hinter der amorphen Menge an und wartete, betrachtete Erwachsene und Kinder. Es war nicht ganz klar, wer zu welcher Generation gehörte. Ich beneidete die Verkäuferin, weil es ein ganz normaler Tag für sie sein durfte. In ihrem Laden lief Barockmusik. Ich war von allen Feierlichkeiten ausgeschlossen. Kein Ostergras. Nirgends.

Kolja klang entspannt, träge. Er liege im Garten und lese. Ja, bei seiner Mutter. Ich sah ihn auf der Wiese vor dem Haus in einem der Liegestühle aus Holz und blau-weiß gestreiften, verschlissenen Baumwollstoff, aber er war mir seltsam fremd in diesem Familienidyll. Schon verflog meine Lust auf Osternester. Im Grunde verabscheue ich das gut bürgerliche, selbstgefällige Familienleben, besonders an den Feiertagen. Darin bin ich Leon wirklich ähnlich. Sofort sehnte ich mich danach, dass er neben mir stehen und seine Locken in die Stirn pressen und unruhig auf der Stelle traben und sich umschauen und „So!“ sagen würde, als Zeichen, dass es endlich weitergehen müsse.

„Dieses helle Grün“, sagte ich. „Es bekommt mir nicht. Ich bin kurz davor, wahnsinnig zu werden.“

Kolja erkundigte sich nach Leon. „Er ist nicht da“, sagte ich. „So!“ sagte Kolja, aber es klang ganz anders als das „So!“ von Leon. Bei Kolja klang es neutral, wie eine Bestandsaufnahme. Leon war nicht in der Lage, auch nur ein einziges neutrales Wort zu sagen, genauso wie er nicht in der Lage war, einen Satz einfach nur als Information zu begreifen. Er interpretierte alles sofort als ein „dafür“ oder „dagegen“, meist als ein „dagegen“.  Wenn er mit Menschen ins Gespräch kommt, die er noch nie vorher gesehen hat, hält er sich nicht mit Small Talk auf, sondern greift sie pauschal an (außer Frauen, die ihm gefallen). Die meisten kommen damit nicht klar.

Ich fragte nicht nach Koljas Frau, auch nicht nach dem Baby, das in wenigen Wochen geboren wurde, ein Mädchen. „Ich möchte dich gern sehen“, sagte ich.

Kolja knurrte wohlig und tief, wie ein Kater, der von einem Streicheln geweckt wird.

„Wohin soll ich kommen?“, sagte er.

„Zu mir nach Hause“, sagte ich.

„In zwei Stunden bin ich da“, sagte Kolja.

Ich habe den Fahrplan im Kopf. Die Züge nach Berlin fahren immer 14 Minuten vor der vollen Stunde. Es war 13:24 Uhr. In zweiundzwanzig Minuten würde Kolja in den Zug steigen. Was erzählte er seiner Familie, wo er so schnell hin müsste? Ich würde ihn nicht danach fragen.

Ich ging nach Hause und betrachtete die Wohnung mit Koljas Augen. Noch immer wird sie von Leon dominiert. Überall stehen seine Fahrräder. Mein Platz ist an dem Tisch in der Küche. Immerhin habe ich ihn auf seine maximale Länge ausgezogen. Auf dem Fensterbrett dahinter türmen sich meine Unterlagen und Bücher.

Ich betrat das Zimmer und schaute mit Koljas Augen auf das Bett. In dem Wandschirm dahinter funkelten die Wasserfarben im Sonnenlicht. Es würde unmöglich sein, mit Kolja in diesem Bett zu liegen. Es war der Ort, der Leon und mir gehörte, ein heiliger Ort.

Als Kolja am Bahnhof Lichtenberg aus dem Zug stieg, war ich da um ihn abzuholen. Er schlenderte über den leeren Bahnsteig, die Hände in den Taschen einer dunkelgrünen Leinenhose, mit einem Rotzjungen-Grinsen im gebräunten, blond gestachelten Gesicht. Gleich würde er mir sagen, dass er den Zug gekidnapped und zum Alex weiter gezwungen hätte, wenn ich nicht hier aufgetaucht wäre. Wir liefen die lange Schräge vom Bahnsteig hinunter. „Vielleicht ist das neurotisch“, sagte ich. „Aber ich kann es nicht bei uns zu Hause machen.“

„Du machst dir zu viele Gedanken“, sagte er und zog mich an den Schultern fester zu sich, eine kumpelhafte Geste, die ich nicht mochte. „Du nimmst dir alles zu sehr zu Herzen.“

„Kann man dagegen was tun?“, fragte ich.

Kolja machte auf der Höhe seines Herzens eine grabende Bewegung und krümmte sich. „Das Herz verkaufen“, sagte er und hielt es mir in der Schale seiner Hand hin. „Und durch einen Stein ersetzen.“ Er lachte eisig, dieser Holländer-Michel. Nicht lustig.

„Wir können zu mir gehen“, schlug Kolja vor, aber das mochte ich nicht. Plötzlich fiel mir ein, dass ich den Schlüssel zu Jolandas Wohnung hatte, die ja immer noch auch meine Wohnung war. Aber ich wollte sie zumindest vorher anrufen. Doch weder Jolanda noch Jakob gingen ans Telefon.

„Warum machst du alles so kompliziert?“ sagte Kolja.

„Würdest du es gut finden, wenn in deiner Abwesenheit….“

„Nein, aber warum gehen wir nicht zu dir?“

„Hab ich dir doch gesagt. Ich muss das trennen.“ Wir standen auf dem Bürgersteig.

„Du trabst wie ein Pony“, sagte Kolja.

„Was?“

„Ja, das ist süß.“ Er holte eine verbeulte Zigarette aus seiner Hosentasche.

„Das ist doch nur ein Trick“, sagte er. „Du belügst dich selbst, indem du versuchst, etwas zu tun und gleichzeitig nicht zu tun.“

„Gib mir mal einen Zug. Ich muss nachdenken.“ Ich nahm ihm die Zigarette aus der Hand. Eine Großfamilie schlängelte sich im Gänsemarsch um uns herum.

Von einem intelligenten Mann durchschaut zu werden, ist ein gutes Gefühl für eine Frau.

„So“, sagte ich. „Gehen wir.“

Die Sonne fiel warm ins Zimmer. Die Trommeln glitzerten. Ich öffnete die Fenster. Der Wind bewegte die Baumkrone im Hof. Von irgendwo wehte das trockene Geräusch von Klanghölzern. Ich zog mich schnell aus und setzte mich nackt neben Kolja auf das Bett. Er rauchte und schaute mich an. Er berührte mich hier und da, an den Brüsten, der Taille, dem Arm. Er zeichnete mit der flachen Hand den Bogen vom Po zu den angewinkelten Oberschenkeln nach. Seine Berührungen erregten mich nicht. Ich fühlte mich wie ein wertvoller Bildband, in dem Kolja hin und her blätterte, mit ästhetischen Vergnügen und der sinnlichen Neugierde auf das Geheimnis des Schönen.

„Erdige, knuffige Rundungen“, sagte er. „Würdest du essen, wärst du dick.“

„Ich esse“, sagte ich.

„Zu wenig“, sagte er. „Du darfst dir nichts vorenthalten. Nimm dir, worauf du Hunger hast.“

„Du bist wie eine Mutter“, sagte ich. Er grinste und wurde rot. Ich strich an seinem Bart entlang, der bei genauer Betrachtung nicht mehr blond, sondern grau war. „Wie ist es jetzt da draußen?“

„Schön“, sagte er. „Lenk nicht ab. Angezogen siehst du viel dünner aus. Warum versteckst du dich?“

Er stand auf. In der Küche warf er seine Zigarette in den Müll und wickelte einen Kaugummi aus dem Papier. Ich streckte mich auf dem Bett aus. Plötzlich war ich nicht mehr unglücklich, weil meine Beckenknochen nicht vorstanden und meine Brüste Beulen in den T-Shirts hinterließen. Bisher hatte mich beides geärgert.

„Wann fahren wir in das Haus?“ fragte ich.

„Wann immer du willst.“

Kolja trug nichts unter seiner Leinenhose. „Ziemlich gewagt“, sagte ich.

„Es ist Sommer“, sagte er. „Es ist heiß.“

„Noch ist kein Sommer“, sagte ich. „Ich kann das Sommergefühl kaum erwarten.“

Kolja betrachtete mich aufmerksam, die ganze Zeit. Durch den Schleier meiner Wimpern sah ich, wie er mich beobachtete, bis ich immer höhere Wellen schlug und ihn schließlich dicht an mich heranzog und mit meinen Beinen umarmte und wir zur Seite kugelten. Er röchelte wie ein Kranker, wie ein Sterbender.

 

 

Kathrins Notiz-Blog 14. April 11

© Illustration Liane Heinze

Als die Sonne am letzten Wochenende den Schmutz auf den Fensterscheiben bloßlegte, leuchtete sie auch in einige staubige Windungen meines Geistes. Dort flusten Zweifel: Dass es mit dem eigenen Büro nicht klappt. Bin ich überhaupt der Typ für so was? Hatte ich nicht immer schon das Problem, zu wenig präsent zu sein, in Gesellschaften, auf Fotos, in Arbeitskollektiven? Jolandas Bild der Trümmerfrau kam mir in den Sinn. „Ein Wesen ohne Namen. Verhärmt, grau, Asche“, hatte sie gesagt. Wieso höre ich nichts von Kolja? Wartet er darauf, dass ich erneut in seine Familien-Idylle einbreche? Glaubt er, weniger schuldig zu sein, wenn ich die Initiative ergreife?

Ich fühle mich von dem knalligen Grün in den Parkanlagen verhöhnt. Ich mag meine Lippenstifte nicht mehr. Wie von Sinnen ziehe ich durch Drogerien, probiere hier und da, als könnte eine neue Farbe auf meinen winterblassen Lippen das Problem lösen. Ich finde nichts. Keine Farbe passt zu mir. Ich bin draußen. Ich bin einundvierzig Jahre alt. Es ist längst zu spät für mich.

Ich habe Leon gebeten, zu bleiben, wenigstens diese eine Woche, bis es Sommer wird und mein Herz sich beruhigt. Er sagte, er müsse sofort zu Jan nach Amsterdam. Jan hätte ein Grove aus Amerika bekommen.

„Du hast doch schon ein Foto gesehen“, sagte ich. „Auf ein paar Tage kommt es doch nicht an.“

„Fotos zählen nicht“, sagte Leon.

Um nicht allein zu sein, verabredete ich mich am Mittwoch zum Arbeiten mit Jolanda in der Bibliothek. Sie paukt gerade Forensik. Ich schreibe an einer Arbeit über Gestaltungsmöglichkeiten von Räumen mit dem Ziel der Stromeinsparung.

„Die Garage“, sagte Leon am Mittwoch beim Frühstück. Er trank den Kaffee im Stehen. Er legte sich einen Schokoriegel auf sein Croissant. „Jetzt ist Hochbetrieb.“

„Das fällt dir ziemlich früh ein“, sagte ich.

„Könntest du…?“ Er trippelte nervös.

„Ich muss diese Arbeit nächste Woche abgeben und noch mindestens zweihundert Seiten zu dem Thema lesen.“

Er meinte, ich könne doch auch in der Garage lernen. So viele Kunden kämen ja doch nicht. Ich könne auf dem Hof in der Sonne sitzen. Es wäre doch alles da, was ich brauche: Kaffeemaschine, Internet, Licht.

In diesem Moment pustete ein Sturm die Staubflusen aus meinem Kopf. Ich wusste wieder ganz klar, was ich will. Ich sagte: „Nein.“

Er heulte auf. Es war das übliche. Jeder denke doch nur an seinen Arsch und ich bastele an meiner Selbstverwirklichung. Mit Jolanda würde ich doch eh nur in der Sonne sitzen und Kaffee trinken. Ich packte meine Sachen und knallte die Tür hinter mir zu.

„Das hättest du doch nun wirklich für ihn tun können“, sagte Jolanda, als wir mittags in der Mensa saßen.

„Ich kann doch nicht in dieser Garage arbeiten. Stell dir vor, du müsstest morgen in einer Garage arbeiten.“

„Stelle ich mir cool vor“, sagte Jolanda. „Dann hätte ich kein schlechtes Gewissen, wenn ich zwischendurch mal was anderes machen muss.“

In der Nacht rief Leon aus Amsterdam an. Er entschuldigte sich. Er sei nicht fair gewesen. Er sagte, er habe gesehen, dass es mir nicht gut geht und bemühe sich, so schnell wie möglich wiederzukommen. Es sei nicht so schlimm, wenn die Garage mal drei Tage geschlossen bliebe. Er fragte, ob ich gut gearbeitet hätte.

Heute und morgen sitze ich mit meinen Büchern und dem Laptop in der Garage. Bisher sind noch nicht viele Leute gekommen. Eine kaputte Lampe. Ein platter Reifen. Ein schlaffes Schaltwerk. Ich halte die Tür geschlossen, weil es so kalt ist und trinke Tee in kleinen Schlucken. Es tut mir gut, mit schmutzigen Fingernägeln zu lesen.

Kathrins Notiz-Blog 5. April 11

© Illustration Liane Heinze

In der Nacht, schon in unsere Kissen versenkt, sahen wir im Fernsehen, wie in Japan radioaktives Wasser ins Meer tropfte. Die japanische Regierung sagte, dass es noch lange tropfen wird.

Leon hat Fieber. „Wir brauchen die Revolution“, jammerte er und drehte sich auf die Seite. „Na komm.“ Er griff mir zwischen die Beine.

Wieso wurde nicht längst eine internationale Luftbrücke eingerichtet, um die Menschen aus den verstrahlten Gebieten herauszuholen? Immerhin gibt es in Berlin eine Gruppe junger Leute, die Hilfe organisieren. Sie suchen überall Zimmer für Japaner, die sie aus dem Land holen möchten. „Ja“, hat Leon gesagt. „Ja.“ Immer wieder: „Ja.“ Und als ich fragte, welches der beiden Zimmer, sah er mich an, als könnte er Shimano nicht mehr von Campagnolo unterscheiden.
Ich habe auch Jolanda gefragt. Sie hat gezögert. Es käme doch eh niemand. Man wisse doch, dass die Japaner gar nicht weg möchten, wegen ihrer betagten Eltern und Tanten und Onkel.

„Aber die ohne Eltern und Tanten und Onkel?“ fragte ich. „Wenn morgen jemand käme? Wärst du bereit?“

„Logisch“, sagte sie.

Letzten Freitag habe ich Kolja im Büro besucht. Es war das erste Mal seit der Zeit in dem Haus, das wir uns wiedergesehen haben.

„Wir könnten das Haus zur Verfügung stellen“ hat er gesagt. „Meine Mutter kann in der Zeit bei uns wohnen.“

„Du musst vorher mit deiner Mutter sprechen.“

„Ich werde sie fragen“, hat er gesagt. „Aber du kannst das Haus schon anmelden. Ich weiß, dass sie bereit sein wird.“

Er hat mir ein Buch geschenkt, „Lob des Schattens“ von Tanizaki Jun’ichiro. Es geht darin um die Architektur und Ästhetik traditioneller, japanischer Häuser. „Weil du meine Schattenfrau bist“, hat er gesagt. Weil ich in dem Haus im Dämmerlicht gearbeitet hatte.

Kolja hat mich beobachtet, während ich in dem Buch blätterte. Er hat mich gelesen und dabei geraucht und die Füße auf den Schreibtisch gelegt. Ich hatte fast schon vergessen, wie beruhigend die Wärme ist, die von ihm ausgeht.

„Schreib doch auch etwas über den Schatten“, hat er vorgeschlagen.

„Eigentlich liebe ich helle Räume. Es war nur, weil das Licht draußen im Garten so schön war.“

„Lies das Buch“, hat er gesagt. „Beobachte die Räume. Vielleicht findest du einen, dessen Schattigkeit dir angenehm ist.“

„Wie ist es in deinem Haus im Sommer?“

„Es ist nicht mein Haus“, hat er gesagt. „Es ist unser Haus.“

Ich bin erschrocken, weil ich nicht wusste, wen er meint. Unser – sind das alle, mich eingeschlossen, oder nur seine Familie? Oder meint er uns beide, ihn und mich? Ich habe mich nicht zu fragen getraut, weil ich die Antwort fürchtete.

Das Buch liegt neben den Tatamis. Leon interessiert es nicht. Er wird nicht fragen, warum ich es lese und woher es kommt. Ich kann ein Geschenk von Kolja einfach so neben mein Bett legen. Leons und Koljas Welten berühren sich nicht.

Ich schaltete den Fernseher aus und drückte mich dicht an Leon. Ich wollte keinen Spalt zwischen unseren Körpern zulassen, damit der Tod nicht zwischen uns tröpfelte. Aber das ging nicht, denn Leon hatte mir den Rücken zugewandt. Sein Rücken ragte vor mir auf wie eine Wand. Es funktioniert also nur umgekehrt, wenn ich mit dem Rücken zu ihm liege. Nur in dieser Position fühlt es sich gut an. Ich rüttelte an seiner Schulter. Ich bettelte: „Dreh dich um, bitte!“ Aber er hörte mich nicht. Ich legte mich auf den Rücken und blickte zur Decke und fühlte, wie der Tod zwischen uns tröpfelte.