Berliner Notiz-Blog 31. Oktober 2007

Auf dem freien Grundstück Linien/ Ecke Alte Schönhauser Straße stehen zwei dunkelgrüne Baucontainer übereinander gestapelt. Zur Alten Schönhauser Straße hin sind die Wände der Container verglast. Riesige Fenster. Wenn der Abend kommt und in den Containern Licht brennt, sieht man Regale mit Ordnern, Schreibtische und Stühle. Das kräftige Neonlicht in den Kästen vermittelt den Eindruck einer Bühne. Ich vermute eine Kunstaktion, bleibe stehen und schaue den Kreativen, die da drin Bauarbeiter spielen, zu.

In Berlin Mitte ist es nicht ungewöhnlich, dass Künstler in Aktionen andere Berufe ausüben. Neulich hatten sich Bildende Künstler als Straßenkehrer verkleidet und fegten den U-Bahnhof Alexanderplatz. Die Kehraus-Aktion war ein Protest dagegen, dass der U-Bahnhof fortan nicht mehr als Galerie genutzt werden darf. Der Aktionskünstler Kaiser Casimir spielt den Bettler und Blumenverkäufer. Casimir, der Kaiser der Clochards, verdient sein Geld wirklich so, während die anderen Künstler, die so tun, als wären sie Hausmeister oder Sozialarbeiter an Schulen, Geld in Brüssel dafür beantragen.

Ich stand vor den beleuchteten Containern und schaute den Künstlern zu, wie sie Ordner aus den Regalen nahmen, schrieben, rauchten, Bier tranken. Weiter geschah nichts. Nirgendwo ein Flyer oder ein Plakat, der die Aktion erklärte. Am nächsten Tag sah ich, dass auf dem Grundstück neben den Containern ein neues Wohnhaus gebaut wird. Das heißt, die Bauarbeiter in den Containern sind echte Bauarbeiter. Warum tun sie dann so, als seien sie Künstler?

Berliner Notiz-Blog 30. Oktober 2007

Ein feiner Regen fällt. Es ist, als laufe man durch Nebel, doch die Luft ist durchsichtig und weich, unter tiefen Wolken. Ich mag den Herbst, sogar das typische Novemberwetter. Schon jetzt freue ich mich auf die Weihnachtszeit. Neben mir an der Ampel steht ein Sozialarbeiter. Er schiebt einen Mann im Rollstuhl. Ein kleiner, gedrungener Mann hält sich an dem Rollstuhl fest wie ein Kind an der Hand seiner Mutter. Er blickt zu dem Sozialarbeiter auf und sagt: „Es nie…nie…nieselt.“ Der Sozialarbeiter nickt dem kleinen Mann lächelnd zu. Eine Frau hinter der Gruppe bittet den kleinen Mann, diesen Satz zu wiederholen. „Ich mag, wie du Niesel sagst.“ Der Kleine schaut zu ihr auf. Sie hat braune Augen mit winzigen Fältchen ringsherum. Ihr dunkles Haar ist von der Nebelluft gekräuselt. Der kleine Mann hält sich verlegen an dem Rollstuhl fest. Dann sagt er: „Nie…Nie…Niesel“, und lacht. „Das klingt schön, so gemütlich“, sagt die Frau. Dann springt die Ampel auf Grün und wir überqueren im Schwarm der Passanten die nasse Straße.

Berliner Notiz-Blog 22. Oktober 2007

In Berlin gibt es zwei Cafés, in denen man sehr guten Kuchen bekommt, das „Sowohl als auch“ im Osten und das Café Buchwald im Westen.

An einem kühlen Samstag im Oktober sind im Café „Sowohl als auch“ im Prenzlauer Berg alle Tische draußen und drinnen besetzt. Unter den Heizpilzen blasen sich junge Kreative auf, bis sie aus den Gartenstühlen quellen, schwafeln laut über Corporate Design, Werbespots, Webauftritte und Dreharbeiten, über Partys und Leute, die man dort treffen muss. Sie schauen sich Aufmerksamkeit heischend um. Sie sind neu in Berlin. Sie haben noch nicht bemerkt, dass in Berlin niemand zuhört.

Im „Sowohl als auch“ finden sie Kuchen in der Qualität, die sie von Mama gewöhnt sind. In dem kleinem Bäckerladen neben dem Café drücken sich sonntägliche Müßiggänger gegen den Tresen. Kinder rutschen über den Steinboden, trampeln auf den fliegenden Blättern der Tageszeitungen herum. Die Kinderwagen verbarrikadieren Bürgersteig und Türen.

Inmitten des Wochenend-Kuchen-Chaos sitzt ein älteres Ehepaar an einem der Bistrotische vor je einem Stück Cremetorte. Gepflegte, kühle Westdeutsche auf Besuch bei den Sprößlingen, die kürzlich nach Berlin gegangen sind. Vielleicht sind sie eben Großeltern geworden.

Das „Sowohl als auch“ ist jetzt ungefähr zehn Jahre alt. Es war schon da, bevor der Baby-Boom im Prenzlauer Berg begann und bevor der Kiez als Montmartre von Berlin in die Routen der Touristenbusse eingebaut wurde.

Das Café Buchwald in Moabit am Ufer der Spree hat eine lange Tradition. Die Buchwalds haben schon achtzehnhundertgrünkohl für den letzten Kaiser Baumkuchen gebacken.
Geraffte lila Gardinen über gestärkten Stores, Sofaeckchen und weiß gedeckte Tische mit lila gepolsterten Stühlen ringsum. Ein Café für Tanten, wie es sie gar nicht mehr gibt.
An einem kalten Sonntag im Oktober ist die Terrasse des Buchwald längst geschlossen. Auf dem Bürgersteig dreht einer totzdem noch an seinem Leierkasten.

Drinnen ist jeder Platz besetzt. Im Foyer ringelt sich eine Schlange. Die fünf Serviererinnen in lila gestreiften Schürzen sind unfreundlich, weil die Schlange überall im Weg steht. Es ist wirklich ein bisschen wie in Dresden.
Akademiker mittleren Alters, die von ihren Frauen nach Kuchen für die ganze Familie geschickt wurden, diktieren den Verkäuferinnen Tortenstücken auf die Pappteller. Akademikerinnen mittleren Alters klatschen hinten in der Sofaecke mit ihren Freundinnen. Viele ältere Paare. Keine Kinder.

Zwanzig Minuten warte ich auf ein Stück Stachelbeerkuchen und einen Tea to go. Den Kuchen nehme ich mit nach Hause. Ich werde ihn mit meinem Freund teilen. Den Tea to go trinke ich im Stehen im Foyer. Ich bin von der Radtour entlang der Spree völlig durchgefroren.
Als ich draußen auf das Fahrrad steige, ist der Leierkastenmann gegangen. Lohnte sich wohl nicht.

Berliner Notiz-Blog 20. Oktober 2007

Mehrere Zeitungen schreiben heute, dass uns Gesichter, die Angst ausdrücken, sofort auffallen. Schneller als zufriedene Gesichter. Die Evolution habe das so eingerichtet.

Die zwei Frauen an der Kasse sehen sich beunruhigt um. Sie haben volle Einkaufstaschen, eine Plastiktüte vom Bio-Supermarkt nebenan ist dabei.

Sie suchen etwas. Sie gehen in Gedanken ihre Einkaufstour noch einmal ab, schauen in die Taschen. Sie sehen nicht ängstlich aus, aber besorgt. Vielleicht wundern sie sich auch nur, wo das ganze Geld geblieben ist. Eine der Frauen trägt eine Wollmütze über dem dunklen Haar. Sie hat braune Augen. Die andere hat volles, honigblondes Haar und Falten, interessante Falten. Man folgt der Spur dieser Falten, stellt sich ihr Gesicht vor, wie es früher war. Diese Frauen sind um die Fünfzig. Sie sind schön.

Ich weiß jetzt, warum ich fünfzigjährige Frauen so neugierig anschaue. In dem Film „Drei Farben Rot“ sagt Jean-Louis Trintignant als greiser, verbitterter Richter zu Irène Jacob, dass er sie im Traum gesehen habe. Er sagt, sie sei glücklich gewesen. Sie fragt ihn, wann und er sagt, sie sei ungefähr fünfzig gewesen. Als ich den Film sah, war ich Mitte Zwanzig, so alt wie Irène Jacob und ich dachte darüber nach, ob auch ich mit fünfzig glücklich sein könnte, ob ich jemanden finden würde, der mich liebt. Ich glaube, man kann sehr glücklich sein mit fünfzig. Oder sehr unglücklich. Mit fünfzig ziehen die Leute Bilanz und sie spüren, was sie versäumt haben. Sie spüren, dass es für einige Projekte unwiderruflich zu spät ist. Trotzdem glaube ich, dass es leichter ist, fünfzig zu werden als vierzig. Vierzig ist wie der letzte Paukenschlag. Jetzt musst du dich beeilen, Mädel. Denn eh du dich versehen hast, eins, fix, drei, bist du fünfzig und musst Bilanz ziehen.

Der Mann vor mir hat zwei Flaschen billigen Wein gekauft, zwölf Flaschen Bier und Tabak und Papier zum Drehen. Er sieht älter aus als er vermutlich ist. Unter seinem Anorak wölbt sich ein Bauchansatz.

Ich frage mich, ob es Leute gibt, die gar nicht an ihre Gesundheit denken, die einfach trinken und rauchen und sich sagen: Egal wie lange. Ist eh nix wert, dieses Leben. Also trinken und rauchen wir, um schneller hier raus zu kommen. So ähnlich!

Während ich durch die Regalreihen schleiche und mich vor den Inhaltsangaben ekele und mich gleichzeitig wegen meines Snobismus ermahne, den ich mir nicht mehr leisten kann, was dazu führt, dass ich aus purer Nervosität sogar vergesse, wie schädlich Industriezucker ist und Unmengen Schokolade in mich rein schaufele, um am nächsten Tag wieder Mineralstoffe, sekundäres Pflanzendingsbums, Vitamine und Kalorien zu zählen und den Anteil von Omega3 – Fettsäuren in Bio-Ölen zu vergleichen. Ich frage mich, wie sinnvoll es eigentlich ist, den Salat im Bioladen zu kaufen und das Schafskäse-Surrogat für 89 Cent im Supermarkt. Es ist wahrscheinlich, dass die Milch für diesen Käse von Kühen stammt, die mit genmanipulierten Futter und Hormonen voll gestopft wurden und erheblich unter Stress standen. Ich denke darüber nach, während ich meinen Wagen durch die Reihen schiebe. Später, zu Hause, wenn ich den Bio-Salat mit dem Billig-Käse in eine Schüssel schnipsele, denke ich nicht mehr darüber nach.

Aber beim Einkaufen denke ich darüber nach. Was dazu führt, dass ich fast nichts kaufe.

Der Bettler vorm Supermarkt hat mir seine letzten zwei Lakritzschnecken geschenkt. Ich knete sie in meiner Jackentasche. Ich hatte ihm 60 Cent gegeben, mein letztes Bargeld und das rührte ihn so, dass er mir etwas Süßes geben wollte. Ich mag den Bettler, wie er immer auf der Mauer sitzt, mit den Beinen baumelt und den Leuten Dinge zuruft. Wie ein kleiner Junge.

Im Supermarkt-Radio sagen sie, welche Unis beim Exzellenz-Wettbewerb gewonnen haben und was sie nun für Geld bekommen. Das geht in die Millionen. An einigen Universitäten wurden Exzellenz-Cluster gebildet. Mir fällt ein, dass ich zu Hause nachschauen wollte, was Exzellenz-Cluster eigentlich sind, als ich die Meldung in einem Newsletter las und es dann doch vergessen habe.

Ich mache mir Sorgen um die Zähne des Bettlers. Ich frage mich, ob Alkohol gegen die Schmerzen hilft. Ob er sich vielleicht wegen der Zahnschmerzen betrinkt und wie es ist, in der Ausnüchterungszelle aufzuwachen und als erstes wieder die Schmerzen zu spüren. Ob die Polizei ihn dann zu einem Arzt schickt? Was sie machen. Ich meine, man kann einen Menschen mit solchen kaputten Zähnen doch nicht seinem Schmerz überlassen. Vielleicht ist der Bettler hochbegabt. Vielleicht hat es niemand bemerkt, als er ein Kind war. So etwas gibt es. Ich habe mal über Hochbegabte recherchiert und geschrieben. Sie sind sehr gefährdet und wenn sich niemand um sie kümmert, driften sie schnell ab. Logisch! Wenn jemand so schlau ist, alles zu durchschauen, was hier passiert, muss er abdriften.

Ich frage mich, ob der Mann mit den Bier – und Weinflaschen schon mal in der Ausnüchterungszelle war. Ich denke, dass er eine Krankenversicherung hat. Vermutlich ist er arbeitslos. Vielleicht ist er enttäuscht, dass es nicht so schnell geht mit dem Sterben, dass davor ein Krankenhaus steht mit Ärzten, die einen streng anschauen und Schwestern, die schimpfen und arrogante Sprüche klopfen. Und dass das alles weh tut.

Berliner Notiz-Blog 17. Oktober 2007

Die meisten Besucher des Hauptzollamtes in Berlin-Schöneberg sind überrascht, dass es diese Behörde noch gibt. Sie leben in einer Welt, in der Newspaper, Wertpapiere und  Bauanleitungen für Hochgeschwindigkeitszüge per Mausklick um den Globus reisen.

Mit ungläubigen Gesichtern betreten sie die triste Halle, die an ein großes Postamt aus den Sechzigerjahren erinnert, nur ohne Gelb. Einigen friert das Lächeln zu einer verlegenen Maske. Die Pakete, die hier verzollt werden müssen, kommen von außerhalb Europas. Nicht, dass die Leute vergessen hätten, dass es das Ausland noch gibt. Im Gegenteil: Sie kaufen ja täglich dort ein. Sie organisieren online Partys in Tokio, haben Cybersex mit dem Liebhaber in New York, schalten Konferenzen mit Geschäftspartnern in Nairobi. Doch in dieser tristen Schalterhalle fällt der Schlagbaum vor den Weltbürgern.

Es gibt auch andere, Stammkunden, das sind die Sammler und Antiquitätenhändler, die regelmäßig weltweit einkaufen, denen nichts zu teuer ist oder die trotz der Zollgebühren ein gutes Geschäft mit ihren Waren machen, wie der Wilmersdorfer Rentner mit dem weißen Basecap, der Porzellanhunde sammelt. Geduldig wartet er auf der Bank, verwickelt die Leute, die sich zu ihm setzen, ins Gespräch, um ihnen Bilder seiner Sammlung zu zeigen, Vitrinen über Vitrinen mit Porzellanhunden aller Rassen.

Eine junge Frau verliert vorn am Tresen die Fassung, weil das Kleid, das sie bei einer belgischen Firma bestellte, nun aus Hongkong geliefert wird. Jetzt muss sie eine Zollgebühr entrichten, die den Preis des Kleides verdoppelt. Am liebsten würde sie es gar nicht annehmen, aber sie hat sich auf das Kleid gefreut. Sie möchte es jetzt endlich tragen.  Natürlich kann sie reklamieren oder die belgische Firma anzeigen, aber an diesem verregneten Sommermorgen steht sie einem Zollbeamten im blauen Kittel gegenüber, der zu einem schadenfrohen Grinsen angesetzt hat, kein Wort sagt, sie nicht beruhigen kann, keine Alternativen für Fälle wie diesen kennt, mit denen er doch täglich konfrontiert wird. Aber es ist eben nicht sein Job, Alternativen aufzuzeigen, womöglich eine Rechtsberatung durchzuführen oder aufgebrachte Mode-Frauen zu beruhigen, denen die Berliner Läden offenbar nicht ausreichen, so dass sie in der ganzen Welt shoppen gehen müssen. Nein, das ist nicht sein Problem. Seine Aufgabe besteht darin, ein Formular auszufüllen und das Geld zu kassieren. Punkt.

Der Mann in der orangefarbenen Regenjacke kauft Schelllackplatten in Uruguay. Er lehnt mit beiden Armen auf dem Tresen der Paketausgabe und ist empört, weil er erklären muss, warum er Schelllackplatten in Uruguay kauft. „Was geht Sie das an?“ raunzt er. Der Beamte erklärt ihm, dass sich die Höhe der Zollgebühr danach richtet, ob er ein Geschäft mit den Platten mache oder sie für private Zwecke erworben hat. „Private Zwecke“, sagt der Mann in der orangefarbenen Lederjacke und wendet sich wütend von dem Zöllner ab, den Wartenden zu, die hinter ihm von einem Bein aufs andere treten. Sie stehen zwar in einigen Abstand hinter einer aufgemalten Diskretionslinie, aber die aufgebrachten Dialoge am Tresen kann man auch dahinter mitverfolgen.

Nebenan erklärt ein schüchterner Russe dem Graukittel freundlich, warum seine Frau mit deutschen Pendeln nicht arbeiten kann und ihre Lehrmeisterin in Moskau deshalb gebeten hat, ihr russische Pendel zu schicken.

Die Beamten gleichen sich, nicht nur in der Farbe der Kittel, sondern auch in der Art, wie ihr Kopf etwas steif über dem Kragen sitzt. Ihr Gesichtsausdruck wechselt zwischen der Selbstzufriedenheit, als Arm des Gesetzes zu wirken und dem unterwürfig-entschuldigenden Lächeln dafür, dass ihre Arbeit nicht mehr so recht in die Welt der Globalplayer passt.

„Was soll ich jetzt damit machen?“ Der Zöllner schüttelt das Paket mit den Vitaminen in seinen schmächtigen, grauen Armen. Der junge Amerikaner ist dem Zöllner sympathisch. Ganz offensichtlich braucht er die Vitamine, so schmal und fahrig und blass, wie er vor dem Tresen tänzelt, die Augen hinter der Brille vor Schreck weit aufgerissen. Die Einfuhr von Medikamenten, auch von harmlosen Vitaminpillen, ist verboten. „Geben Sie es mir doch einfach“, antwortet der junge Amerikaner. Aber das bringt der Beamte nicht fertig. Er darf nicht. Er ist machtlos gegen die Zollbestimmungen. Der junge Mann stürmt wütend aus dem Amt. Ohne Vitamine. Der Zöllner sackt ein Stück in sich zusammen. Er trägt das Paket nach hinten. Heute Abend werden die Vitamine entsorgt, zusammen mit den Viagra-Paketen.