Ousmane und die Löwen

Berliner Zeitung

Letzte Woche war Ousmane wütend. Corinne Hofmann, die Autorin des Buches „Die weiße Massai“ war zu Gast in einer Talkshow. „Ich bin jetzt fünf Jahre in Deutschland“, sagt Ousmane, „aber ich würde nicht auf die Idee kommen, ein Buch zu schreiben „Der schwarze Deutsche“. Man kann eine Kultur so schnell gar nicht völlig verstehen. Niemals ist sie nach vier Jahren in Kenia eine „weiße Massai“.
Ousmane rief in der Sendung an. Er wollte mit Corinne Hofmann sprechen. „Ich kann Sie gut verstehen“, sagte die Dame am Telefon. „Aber Sie können jetzt nicht auf Sendung.“

Wenn Ousmane davon überzeugt ist, dass etwas richtig oder falsch ist, gibt er so schnell nicht auf. Er diskutiert. Er argumentiert. Er lässt nicht locker.

Es half nichts. Er durfte nicht auf Sendung. Die Dame am Telefon mag sich den Schweiß von der Stirn getupft haben, als sie Ousmane Doudou Diallo endlich wieder losgeworden war.

Ousmane schlitzt die Folienhülle des Gitterwagens im Bio-Supermarkt mit einem Cutter auf und sortiert geschwind Bierflaschen ins Regal. „Die Deutschen streiten nicht gern“, sagt er. „Sie fühlen sich sofort persönlich angegriffen. Es ist schon vorgekommen, dass Leute mich nicht wieder treffen wollten, nur weil ich es gewohnt bin, meinen Standpunkt zu verteidigen.“ In anderen Ländern sei das anders, in Frankreich und Guinea zum Beispiel. Da streiten die Leute gern. Sie lieben Provokationen.

Er knüllt die Folienhaut zusammen und wirft sie auf den leeren Wagen. Ousmane arbeitet gern im Bio-Supermarkt. „Diese Arbeit zu finden war, als hätte ich den Jackpot geknackt“, sagt er. Das Bioteam fördert ihn. Sie dürfen „Schokomann“ zu ihm sagen. Die Kunden behandeln den schwarzen Kassierer besonders höflich.

Und niemand fragt nach Löwen. Als Ousmane vor fünf Jahren nach Deutschland kam, haben ihn erwachsene Menschen manchmal gefragt, ob es da, wo er herkommt, Löwen gibt. Als hätten sie ihr einziges Wissen über Afrika aus einem Bilderbuch für Dreijährige. Diese Fragen haben Ousmanes Gefühl der Fremdheit noch verstärkt.

Ousmane Doudou Diallo ist in Kamsar in Guinea geboren, einer modernen Hafenstadt an der Atlantikküste. Kamsar zählt ungefähr achtzigtausend Einwohner.

Für guineeische Verhältnisse ist seine Herkunft privilegiert. Das Leben in Kamsar, wo die Menschen früher vom Fischfang lebten, wird seit den Siebzigerjahren von der CBG, der Company of Bauxit Guinea, beherrscht. Die Hälfte aller Weltvorräte an Bauxit lagern in Boké, der Präfektur, zu der die Stadt Kamsar gehört. Vom dort aus wird das Bauxit in die ganze Welt verschifft.Ousmanes Eltern arbeiten bei der CBG. Die Angestellten genießen viele Sozialleistungen, die in Afrika unüblich sind, Krankenversicherungen zum Beispiel.

Doch als Ousmane sein Mathematikstudium in der Hauptstadt Conakry abschloss, wusste er, dass es in Guinea keine Zukunft für ihn gibt.

„In Europa hat jeder eine Chance“, sagt Ousmane. Er sortiert Fruchtsäfte und Limonaden ins Regal. „In Guinea findet nur Arbeit, wer einflussreiche Freunde hat.“

Ein Praktikum bei der CBG konnten seine Eltern – die Mutter ist Sekretärin, der Vater Buchhalter – noch vermitteln, doch um ihrem Sohn eine bezahlte Anstellung zu verschaffen, reichte ihr Einfluss nicht aus.

In den letzten Jahren übernahmen zunehmend Schwarze die führenden Positionen bei der CBG. Ousmane sieht den Prozess der sogenannten Afrikanisierung auch kritisch. „Wenn in Afrika jemanden einen guten Job hat, erwartet die Familie, dass er für andere, die weniger haben, sorgt. Auf jeden gut verdienenden Afrikaner kommen ungefähr fünfzig Arbeitslose in der Familie. Die Afrikanisierung könnte eine Chance sein, aber die Leute denken zuerst an sich und ihre Familien und erst danach an die Firma. Viele Sozialleistungen sind in den letzten Jahren abgeschafft worden. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten würde. Vielleicht würde auch ich in die eigene Tasche arbeiten, um meiner Familie zu helfen.“

Afrikanisierung heißt nicht, dass die CBG nun den Guineesen gehört. Die Gewerkschaften des Landes kämpfen darum, dass ein paar zusätzliche Brotkrumen vom Tisch der internationalen Konzerne fallen und den Menschen im Land zugute kommen, statt dass korrupte Regierungsbeamte sie wegschnappen und in ihren Clans aufteilen.

Im Februar war Ousmane wieder wütend. Die von den guineeischen Gewerkschaften organisierten Generalstreiks waren keiner deutschen Nachrichtensendung eine Meldung wert. Auch dann nicht, als sie sich zu Unruhen ausweiteten, das Militär eingriff und Tote zu beklagen waren. „Gäbe es nicht das französische Fernsehen und das Internet, hätte ich überhaupt nicht erfahren, was bei uns zu Hause los ist.“

Ousmane verfasste einen Brief an die ARD. Deutschland erwarte von den Migranten, dass sie sich für die Kultur und Politik des Landes interessieren. „Aber wann beginnen Sie, sich für Afrika zu interessieren?“

Die ARD antwortete, man plane eine längere Reportage über Westafrika. Einige Wochen später berichtete der „Weltspiegel“ über die Streiks in Guinea.

„Die meisten jungen Afrikaner haben eine völlig falsche Vorstellung von Europa“, sagt Ousmane. „Sie glauben, das Geld liegt hier auf der Straße.“

Er hätte gern Informatik studiert. Die Ausländerbehörde räumt Migranten zwei Jahre ein, um einen Studienplatz zu finden. Als es mit dem Studium nicht sofort klappte und man ihm nahelegte, erst einmal einen Sprachkurs zu besuchen, weinte Ousmane. „So wird das nichts“, sagte sein Freund. „Hier musst du hart sein. Mit Tränen kommst du nicht weit.“

Bewerbungen, Absagen, die Angst vor dem Briefkasten, die Angst vor dem Kontostand. Das Geld, das seine Eltern über viele Jahre für ihn beiseite gelegt hatten, war schnell verbraucht. Die Mutter konnte nicht fassen, wie teuer die Mieten und das Essen in Europa sind.

Kurz vor Ablauf der zwei Jahre beginnt Ousmane ein Mathematik-Studium an der Humboldt-Uni. Jetzt darf er auch eigenes Geld verdienen. Am Wochenende putzt er den Bio-Supermarkt. Später hilft er manchmal an der Kasse aus. Im letzten Jahr brach er sein Studium ab und stieg als Verkäufer ins Biogeschäft ein.

Jetzt ist Ousmane zweiunddreißig Jahre alt und führt ein typisches Berliner Familienleben. Er ist verheiratet. Sein Sohn wird bald drei Jahre alt. Manchmal laden die Schwiegereltern zur Grillparty in den Garten nach Brandenburg ein.

„Ja, schwarze Männer sind Machos“, sagt Ousmane. „In Afrika betreten sie die Küche nicht.“ Er jedoch sei durch das Beispiel seines Vaters bestens auf eine moderne Ehe in Europa vorbereitet worden. „Mein Vater hat manchmal für uns Kinder gekocht. Er musste, weil meine Eltern beide arbeiteten. Es war ihm peinlich vor den Nachbarn, aber mir ist er ein Vorbild geworden. Ich habe kein Problem, für meine Familie zu kochen.“

Neulich sind sie übers Wochenende an die Ostsee gefahren. Das erste Mal. Er hatte Angst. „Wenn du hörst, dass sie dort Schwarze verhauen…Aber nichts ist passiert“, sagt er, erleichtert, fröhlich, wie nach einer bestandenen Prüfung, einer Prüfung für das Land seiner Wahl. Stundenlang seien sie am Strand spazieren gegangen. „Die Leute waren alle superfreundlich.“

Und niemand hat nach Löwen gefragt. Ousmane beobachtet, dass die Gesellschaft sich verändert. Was seinen Sohn betrifft, macht er sich keine Sorgen. „Wenn er in die Schule kommt, wird es in Deutschland kein Thema mehr sein, woher jemandes Eltern kommen und ob einer schwarz oder weiß ist.“

Aber Killés Freunde werden wissen, dass er Großeltern in Kamsar hat und dass dort keine Löwen durch die Straßen laufen, sondern Autos fahren. Wie in Berlin.

 

Zwischen den Welten

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Das Magazin November 2007

Anna aus Armenien kam nach Deutschland. Sie arbeitete als Au-pair-Mädchen, jetzt will sie studieren. Vieles im Alltag ist ihr fremd, und natürlich hat sie Heimweh. Doch an eine schnelle Rückkehr denkt sie nicht

„Weiß jemand von euch, wie alt Yerivan ist?“, fragt Anna, die Lehrerin im armenischen Gemeindehaus. Erwartungsvoll blickt sie die Schüler an. Sie trägt eine weiße Bluse, einen schmalen, schwarzen Rock und Stiefel. Sie lächelt geheimnisvoll wie eine Geschichtenerzählerin, die kurz vor der Pointe die Spannung hält. Ihr Haar ist am Hinterkopf so locker gesteckt, dass die dunkle Masse jeden Moment abzustürzen droht. An ihren Ohren hängen runde, fein ziselierte Silberringe mit Kettchen, die bis zum Kinn reichen.

Sie erzählt ihren Schülern von der Festung Yerivan, die im Jahr 782 vor Christus erbaut wurde. Die kleine Eva war in den Ferien das erste Mal in Armenien. Warand war schon mehrmals dort. „Ich habe den Ararat gesehen“, sagt er. Die Erwähnung des Gebirges Ararat erzeugt einen Moment Stille in dem kleinen Raum. Die Kinder kennen das Land ihrer Eltern nur von gelegentlichen Besuchen. Sie sind in Deutschland geboren. In Berlin.

Deshalb ist deutsch die vertrautere Sprache für sie, aber Anna Schavinyan, die Lehrerin, besteht darauf, dass sie wenigstens einige armenische Sätze bilden. Die Lehrerin ist jung. Einundzwanzig Jahre. Sie hat keine pädagogische Ausbildung. Sie arbeitet dreimal in der Woche als Verkäuferin in einem Seifenladen. Seit gestern weiß sie, dass sie in Deutschland bleiben und hier studieren kann.

Die armenischen Gemeinden zahlen ihr für den Unterricht ein symbolisches Honorar. Anna würde diese Arbeit auch ohne Honorar tun.

Sie spricht gern über Armenien. Es hilft gegen das Heimweh.

Das Gemeindehaus in Berlin Charlottenburg ist der einzige Ort in Berlin, an dem sie sich zu Hause fühlt. Hier spricht alles armenisch, die Menschen und die Bilder an den Wänden, das Foto des Ararat zum Beispiel, wie er aus einem Wolkenschleier wächst. „So sieht man ihn an klaren Tagen von der Hauptstadt Yerivan aus“, erzählt Anna. „Der Ararat gehörte früher zu Westarmenien, liegt aber jetzt auf dem Gebiet der Türkei. Man darf nur mit einer Sondergenehmigung in die Türkei reisen. Der Ararat ist also für die meisten Armenier unerreichbar.“

3,5 Millionen Einwohner zählt Armenien. 8 – 9 Millionen leben seit der Verfolgung und dem Völkermord durch die Türken im Jahre 1915 in der Diaspora.

Armenier sind Christen. Die apostolische, armenische Kirche ist eng mit der griechisch orthodoxen Religion verwandt. Armenien ist das erste Land der Welt, in dem die christliche Kirche zur Staatsreligion ernannt wurde. Ein Plakat im Gemeindesaal erinnert an dieses Ereignis im Jahre 301 nach Christi. „Da saßen die Russen noch auf den Bäumen“, sagt Anna.

Sie findet, dass jeder Armenier, in welchem Land auch immer er lebt, das einzigartige Alphabet kennen sollte, dass ihr Volk seit dieser Zeit verbindet.

Ihr Gesicht ist einfach. Es ist ein armenisches Gesicht mit hohen Wangenknochen, hinter denen die dunklen Augen liegen. Manchmal fragen die Leute, ob sie aus der Türkei kommt. Einige halten sie für eine Italienerin, andere tippen auf Südamerika. Woher? Armenien? Staunen. Kaum, dass jemand weiß, wo Armenien liegt.

Noch kann Anna nicht sagen, ob sie nach dem Studium in Deutschland bleiben möchte. Sie findet die Deutschen kühl, zu distanziert. Der Gedanke, für immer nach Armenien zurück zu kehren, behagt ihr allerdings auch nicht. Sie wägt die Kulturen gegeneinander ab, grübelt, ist unschlüssig. Aber es gibt wichtige Dinge, die sie nur entweder armenisch oder westlich entscheiden kann. Die Liebe. Die Männer laufen ihr scharenweise nach. Das ist nicht das Problem. Aber in Armenien ist es üblich, erst dann mit einem Mann zu schlafen, wenn man weiß, dass man heiraten wird. „Ich finde die freiere westliche Moral schon in Ordnung, aber ich fühle mich darin fremd. Ich bin nun einmal anders erzogen.“ Sie zieht die Schultern hoch. Da passt etwas nicht, ist zu eng, schnürt ihr das Herz ein. Die eine Kultur ist es nicht mehr, die andere noch nicht. Was nun? Sie wartet ab. Sie hebt sich auf. Sie wird sich jetzt auf ihr Studium konzentrieren.

Das armenische Abitur berechtigt nicht zu einem Studium an einer deutschen Universität. Dennoch wird Anna ab Oktober den Bachelor-Studiengang Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität belegen.

„Mir ist kein Fall eines armenischen Studenten bekannt, der ein Studium in Deutschland begonnen hat“, sagt Azad Ordukhanyan, Leiter des Armenisch-Akademischen Vereins 1860 e.V. in Bochum. „Ich frage mich, wie Anna das gemacht hat.“ Der Verein betreut zirka zweitausend armenische Studenten und Doktoranden in Deutschland. Die meisten haben ihr Studium in anderen Ländern begonnen und führen es hier fort. So gestattet es die deutsche Hochschulordnung den ausländischen Bewerbern.

Ihre Ansage am Telefon ist kühl und knapp. Sie wird sich um zwanzig Minuten verspäten. Sie verspätet sich häufig. Doch immer sagt sie ihre Verspätungen rechtzeitig an und hält sie dann pünktlich ein.

Ihr Telefon ist rund und rosa und mit geschwungenen Ornamenten verziert. Das Telefon ist bedeutend für sie, denn sie lässt sich nicht von ihren Verabredungen dirigieren. Sie dirigiert ihre Verabredungen selbst, schiebt sie vor und zurück, ordnet sie in den Rhythmus ihres Alltags. Sie hat viel zu tun. Die Arbeit im Seifenladen, Babysitten, so oft wie möglich. Alles schlecht bezahlte Jobs. Sie hält sich gerade so über Wasser.

Verabredungen im Café leistet sie sich nicht. Sie wird zu Hause kochen.

Auf halber Treppe zwischen den Zimmeretagen des Studentenwohnheims liegen die Gemeinschaftsküchen. Eine breite Fensterfront geht hinaus in den Garten. Die Bäume wachsen bis an die Scheiben.

Anna blickt in das Grün. Sie wirkt klein in dieser großen, schattigen Küche. Sie könnte eine junge, armenische Frau sein, deren Gedanken sich hauptsächlich darum drehen, was sie für ihre große Familie kocht.

Heute wird sie einen Gata backen, den traditionellen, armenischen Kuchen, den die Großmütter an Festtagen zubereiten. Während sie den Teig aus dem Papier nimmt und ausrollt, beginnt sie zu erzählen, auf östliche Weise, in einem ruhigen Fluss, langsam, ausführlich und so genau, dass es leicht fällt, zuzuhören.

In der Studienberatung der Universität Potsdam hat Anna Doktor Birgit Bismark getroffen. Doktor Bismark hat sich ans Telefon gehängt und jede Regel und Vorschrift in die Knie argumentiert, damit Anna sich für das Studienkolleg bewerben durfte, den Vorbereitungskurs für ein Studium an einer deutschen Hochschule.

Nach der Aufnahmeprüfung erhielt Anna den Bescheid, dass sie durchgefallen sei. Sie, die den Werther, Heines Liebeslieder und Die weiße Rose auf deutsch gelesen und die Lorelei auswendig aufsagen kann, die immer nur deutsch gelernt hat, nicht nur in der Schule, sondern auch abends bei einer Privatlehrerin.

Eigentlich hatte sie kein deutsch lernen wollen. Niemand wollte es. Aber in diesem Jahr stand Deutsch als zweite Fremdsprache nun einmal auf dem Programm. Es gab Proteste der Eltern. Vergeblich. Die Schulleitung blieb dabei: Dieser Jahrgang lernt deutsch.

Dabei hat diese Fremdsprache in Armenien eine lange Tradition. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es einen intensiven Kulturaustausch zwischen beiden Ländern.

Später fand Anna Gefallen daran, gewann sogar die Deutsch-Olympiade in ihrer Heimatstadt Alaverdi.

„So ein Stapel Papiere.“ Annas Hand schwebt gut einen Meter über dem Küchentisch. Zeugnisse, Urkunden und Zertifikate, Originale und Kopien der Originale, Übersetzungen und Kopien der Übersetzungen, alle notariell beglaubigt, Beweise, die sie vor der Aufnahmeprüfung vorlegen musste.

Die Absage erwies sich natürlich als Irrtum. Anna konnte am Studienkolleg teilnehmen, bekam einen Studentenausweis und einen Platz im Studentenwohnheim. Sie war so gut, dass sie den Vorkurs überspringen konnte. „Die Lehrerin nannte mich ‚Anna mit dem großen Mund‘, weil ich alles wusste.“ Sie lacht.

„Früher habe ich viel geweint“, sagt sie. „Ich konnte immer weinen. Ich musste nur an etwas trauriges denken und schon flossen die Tränen. Jetzt kann ich das nicht mehr.“

Mit dem Nudelholz zerdrückt sie Hasel – und Walnüsse zwischen zwei Lagen Backpapier.

Studieren in Armenien ist teuer. Annas Vater, ein Bauingenieur, arbeitet als Kraftfahrer bei einem staatlichen Transportunternehmen, bei dem auch Annas Mutter als Buchhalterin und die Großmutter als Lagerverwalterin arbeiten. Sie ernähren vier Kinder, Annas Geschwister. „Nach dem Krieg haben viele keine Arbeit mehr in ihren Berufen gefunden“, sagt Anna. Der Krieg mit Aserbaidshan um die Region Karabach in den Neunziger Jahren hat ihre Kindheit geprägt. „Manchmal gab es tagelang kein Wasser und keinen Strom.“

Achthundert Dollar im Jahr kostet ein Studium an einer der privaten Universitäten. Die kostenlosen staatlichen Studienplätze, gerade für Sprachstudien, gehen zum großen Teil gegen Bestechungsgelder weg.

Anna rollt die Füllung in den Blätterteig, teilt ihn in kleine Stücken und drückt die Ränder mit einer Gabel zusammen.

„Die Großmütter in Armenien arbeiten mehrere Tage an diesem Teig.“ In Berlin gibt es ihn tiefgefroren im Supermarkt. „Ist natürlich nicht so gut wie Zuhause.“ Nicht nur der Gata sei in Armenien besser. Die Großmütter seien es auch. „Sie sind warmherziger mit ihren Enkeln.“ Anna hat die deutsche Familie als Au-Pair beobachtet. „Als die Tante zu Besuch kam, haben sie sich nicht einmal umarmt.“ Später habe sie allerdings auch andere, herzlichere Familien kennengelernt. Trotzdem: Deutschland bleibt die Feinfrost-Version des Lebens. In Deutschland muss man vorher anrufen, wenn man jemanden besuchen will. In Deutschland werden die Portionen abgezählt, wenn Gäste geladen sind. Man schaut aufs Geld, sogar beim Feiern. Das alles wäre undenkbar in Armenien.

Aber sie will sich mit diesem Land arrangieren. Nur hier hat sie die Möglichkeit zu studieren. Und studieren möchte sie auf jeden Fall. Eins hat sie verstanden: Man darf nicht bitter werden, nur, weil das Leben manchmal nicht mit den eigenen Erwartungen übereinstimmt.

Nachts ist sie allein mit dem Heimweh, in das sich die Sehnsucht nach Liebe mischt.

In ihrem kleinen Zimmer, unter dem Himmelbett aus lila Tüll, hat sie einen Schleier versteckt. Sie legt ihn auf ihr Haar, drückt die Taste des Recorders auf dem Schreibtisch und tanzt in kleinen Schritten zum melancholischen Klang der armenischen Musik. Sie breitet die Arme in Schlangenbewegungen aus, soweit es der schmale Raum zulässt.

Rudin, ihr Zimmernachbar aus Bangladesh, dem sie gelegentlich Deutschunterricht gibt, ist in sie verliebt, aber er ist nicht der Richtige, auch nicht die jungen armenischen Männer in der Gemeinde, die in Deutschland nur „geduldet“ sind und nicht arbeiten und nicht einmal am Wochenende aus Berlin raus dürfen.

Den Gata wird sie morgen abend mit zu Adelheid nehmen, ihrer Freundin, die sie scherzhaft „Mutti“ nennt. Adelheid Schardt hatte Jugendliche, vornehmlich ausländische Jugendliche, eingeladen, Berliner Trümmerfrauen zu interviewen und zu fotografieren. Die Fotos und Teile der Interviews wurden später auf eine Hauswand projiziert. Die Passanten konnten sie am Abend im Vorübergehen ansehen und lesen.

Anna hat es Spaß gemacht. Seitdem kann sie sich vorstellen, Journalistin zu werden.

Sie lässt ein paar Stück Gata für Rudin und Nina, das Mädchen aus Litauen, auf einem Teller in ihrem Zimmer zurück.

Bei Adelheid ist sie immer willkommen. Natürlich ruft sie vorher an. In diesem Fall findet Anna das auch in Ordnung. Schließlich hat Adelheid eine Menge zu tun, ist nicht immer zu Hause.

Sie werden Tee trinken und über die Neuigkeiten reden. Adelheid hatte von Anfang an diese herzliche, unkomplizierte Art. Mit ihr fühlt es sich selbstverständlich und vertraut an. Fast wie mit Armeniern.

Liebe auf den ersten Satz

Berliner Zeitung

Berliner Zeitung 22. Oktober 2007

Rina, eine jüdische Philosophin in Berlin, ist der deutschen Sprache früh verfallen. Jetzt kennt sie auch deutsche Tücken.

In wenigen Tagen ist es endlich soweit. Rina wird in den Geburtsort Friedrich Nietzsches fahren, ein kleines Dorf in der Nähe von Leipzig. Röcken.

Röcken wollte sie schon während ihrer ersten Reise nach Deutschland besuchen, kam dann aber einfach nicht aus Berlin raus, weil hier so viel los war.

Noch früher, als sie in ihrer Heimatstadt Tel-Aviv deutsch zu lernen begann, träumte sie bereits davon, auf den Spuren ihres Lieblingsphilosophen unterwegs zu sein.

Mit Nietzsche hat ihre Leidenschaft für die Philosophie und die deutsche Sprache begonnen. Sie war zwölf Jahre alt, als sie das erstemal Nietzsche las, damals noch in ihrer Muttersprache Hebräisch. Es war Liebe auf den ersten Satz.

Jetzt hat Rina einige Semester Philosophie an der Technischen Universität Berlin hinter sich. Ihre jugendliche Schwärmerei für die deutsche Kulturnation hat sich relativiert. „Anfangs glaubte ich, in Deutschland sitzen alle mit einem Goethe im Café. Ich war wirklich erstaunt, Leute zu treffen, die sich gar nicht für Literatur interessieren.“

Rina hat ein bisschen Angst vor der Fahrt nach Röcken. „Meinst du, ich kann als Jüdin allein dahin fahren?“

Der Ort zählt etwas mehr als sechshundert Einwohner. Ein Nest. Kleiner als Mügeln und gar nicht so weit davon entfernt.

Die „Freunde von Röcken“, ein gemeinnütziger Verein, der sich darum kümmert, dass Nietzsches Geburtshaus nicht weiter verfällt, stammen nicht aus der Gegend.

Rina ist sehr weiß. Dass sie Jüdin ist, sieht man ihr nicht an der Nasenspitze an. Zumindest hat ihr das ein Kommilitone neulich versichert. „Jüdin? Komisch, du siehst gar nicht so aus. Mund und Nase, alles ganz normal.“

Es sind diese Bemerkungen, die Rina verunsichern. Natürlich hat sie als Jugendliche vom Antisemitismus in Europa gehört. Ihn zu erleben, ist aber noch etwas anderes.

Niemals hätte sie geglaubt, Angst zu bekommen. Sie will die Angst auch gar nicht wahrhaben. Sie spricht verwundert über ihre Erlebnisse. Sie lacht darüber. Sie wisse ja, dass sie hier sicher sei. Nicht umsonst genieße Berlin in Israel mittlerweile den Ruf, die beste europäische Stadt für Juden zu sein.

Doch dann entschuldigt sie sich dafür, dass sie ihr Foto lieber nicht in der Zeitung haben will und wenn, dann nur mit dieser großen Sonnenbrille. Und ihren vollständigen Namen möchte sie lieber auch nicht veröffentlichen. „Es ist nur…ich bin nicht sicher, weißt du.“

Die Beunruhigung wird immer wieder genährt. Einmal war sie zu einer Gesellschaft geladen. Als der Gastgeber sie fragte, ob sie Jüdin sei, da sie doch aus Israel komme und Rina diese Frage wie gewohnt in ihrer natürlichen Selbstverständlichkeit bejahte, richteten sich plötzlich alle Blicke auf sie. „Keiner sagte mehr etwas. Es war auf einmal ganz still. Es dauerte bestimmt eine Minute, bis sie sich wieder gefangen hatten und weiter redeten.“

Sie könnte noch viele ähnliche Geschichten erzählen, möchte aber nicht. Das sei doch alles nicht der Rede wert. „Es ist eben schwierig in Europa.“ Punkt. Ihre Angst bezeichnet sie als irrational.

In umgekehrter Weise gleicht sie ihren deutschen Altersgenossen, die einen normalen Umgang mit dem deutschen Nationalgefühl fordern. Man müsse nicht immer und immer wieder den Holocaust herauf beschwören. Das sei doch nun wirklich lange genug her.

Im Unterschied zu ihren Altersgenossen in Deutschland sind es aber nicht die unbekannten Urgroßeltern, die von Verfolgung betroffen waren, sondern Rinas eigene Eltern.

„Ich bin froh, dass du das mal erlebst“, sagt die Mutter am Telefon. „Damit du weißt, was für ein Glück es ist, dass du deine Kindheit in Israel verbringen und ganz selbstverständlich jüdisch sein konntest.“

Rinas Familie stammt aus der Bukowina und Galizien, Regionen, die heute auf dem Gebiet der Ukraine und Rumäniens liegen. Ihre Eltern verließen Rumänien in den Siebzigerjahren. Rina wurde 1983 in Tel Aviv geboren.

Auf jeder Party trifft sie mindestens einen, der die Lösung des Nahostkonfliktes in der Tasche hat. Israelis und Palästinenser müssten einfach mehr zusammen reden, das Patentrezept Nummer eins, quillt Rina inzwischen zu den Ohren raus. Es gibt aber auch skurrilere Vorschläge. Neulich äußerte einer die Idee einer Volksbefragung, nach der man aus dem Mittelwert der Meinungen weitere politische Maßnahmen ableiten sollte.

Rina findet es gut, in Israel aufgewachsen zu sein. Schade sei nur, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache ist.

Nach wie vor ist Deutsch für sie die schönste Sprache der Welt. Sie spricht es so gut, dass man den winzigen Restsatz ihres Akzents eher für einen leichten Dialekt hält, eine vergessene Sprache von weiter her, aus dem Osten, aus einer vergangenen Zeit, als jiddisch und deutsch noch dicht beisammen lebten.

Rina liebt es, Wörter zu entdecken. Sie schmeckt die Worte. Ihre Stimme klingt ruhig und dunkel. „Seit ich das erste Mal auf der Ausländerbehörde war, warte ich auf eine Gelegenheit, das Wort ‚etwaige‘ zu benutzen.“

Mit einem Freund aus ihrer WG betreibt sie ein Schwäbisch-Hebräisches Sprachtandem. Wie die Schwaben die Dinge verniedlichen, das erinnert sie an Jiddisch. Unter den deutschen Dialekten entzücken sie besonders Schwäbisch und Sächsisch. Sie wundert sich, dass so viele Sachsen in Berlin offenbar ein Problem mit ihrer sprachlichen Herkunft haben. Selbst auf ihre ausdrückliche Bitte tun sie sich schwer damit, ein bisschen sächsisch zu reden. „Es ist doch so ein wunderschöner Dialekt. Nietzsche muss sächsisch gesprochen haben.“

In Israel hat sie Jiddisch-Kurse besucht, gemeinsam mit Leuten aus aller Welt, unter anderem mit einem vietnamesischen Ehepaar, das jetzt zu Hause nur noch jiddisch spricht. Sie tun es, damit die Sprache nicht stirbt. Ihr Kind soll jiddisch als Muttersprache lernen.

Der sinnliche Schmelz aus Mittelhochdeutsch und Hebräisch, mit slawischen und aramäischen Einflüssen freilich, zeige doch die kulturelle Nähe von Juden und Deutschen, meint Rina, eine Mischung, in der sie sich Zuhause fühlt.

Kurz nach dem kulturellen Höhepunkt ihres Aufenthalts in Deutschland, der Fahrt nach Röcken, wird sie das Land vorerst verlassen. Ihre Doktorarbeit schreibt sie in den USA. Die amerikanische Dissertation sei in Fachkreisen anerkannter, weil sie mit einem aktiveren Studienprozess verbunden ist als in Deutschland.

Was danach kommen wird, weiß Rina noch nicht. Sie hat keine Präferenzen, was ihr Fach betrifft. Im Hinblick auf die Sprache ist sie allerdings sicher: „Ich kann mir nicht vorstellen, in einem Land zu leben, in dem kein Deutsch gesprochen wird.“

Dass Deutschland so viele Philosophen hervorgebracht hat, sieht sie in der Sprache begründet. „Eine Sprache, in der man ‚dasselbe‘ und ‚das Gleiche‘ unterscheidet, musste die Sprache der Philosophie werden.“

Doch warum ausgerechnet Nietzsche? „Er war ein Dichter“, sagt Rina. „Außerdem ist es gar nicht wahr, dass seine Philosophie zur Nazi-Ideologie passt. Nur, weil Hitler sich einmal mit seiner Schwester getroffen hat. In Wirklichkeit war Nietzsche das Gegenteil von einem Antisemiten. Er war ein Anti-Antisemit.“

Vielleicht wäre es gut gegen die „irrationale Angst“, wenn sie nicht allein nach Röcken fahren würde. Sie könnte zum Beispiel ihren Leipziger Freund mitnehmen, den sie sowieso auf dieser Reise besucht. „Mein Freund ist aber auch Jude“, resigniert sie. „Allerdings kommt er aus England. Er hat blaue Augen.“ Das könne für den Aufenthalt in Röcken möglicherweise von Vorteil sein.

Der Wächter der Stoffe

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Das Magazin Mai 2007

Er verachtet Turnschuhträger und Menschen, die Klamotten sagen, wenn sie Kleidung meinen. In Berlin herrscht Oleg Ilyapour über ein kleines Reich aus seltenen, wunderbaren Stoffen voller Geschichten

Inmitten der bunten Szeneläden in der Berliner Akazienstraße, zwischen Estrellas Chocolaterie und dem Coffeeshop Double-Eye, klemmt ein schmales Geschäft. Die Eingangstür bewacht ein kräftiger Mann mit langem, grauen Bart.
Im Winter trägt der Mann einen Schafwollmantel, im Sommer bunte Gewänder.

Oleg Ilyapour steht jeden Tag auf der Treppe vor seinem Geschäft. Er ist eine verlässliche Größe im Kiez. Die Leute kennen ihn seit Jahren, bleiben auf eine Zigarette mit ihm stehen, plaudern über Politik und Krankheiten, Familienprobleme und die Preise.

Ilyapours Geschäft heißt Fichu, was soviel heißt wie: kaputt, futsch, erledigt, im Eimer.
Im Schaufenster liegen Stoffballen. Das handgeschriebene Schild mit den Öffnungszeiten ist im Laufe der Jahre ergraut.
Wenn der Frühling kommt, hängt Ilyapour Kleider an die Tür, im Winter Jacken aus Tweed.

Passanten, die sich durch die schmale Tür drücken und einfach mal schauen wollen, werden nicht, wie in den anderen Mode-Läden ringsum, von gefälliger Musik und klingelnden Bügeln, Sonderangeboten und Bonbongläsern auf polierten Ladentafeln umworben, sondern von Ilyapour in rauhem Ton darauf hingewiesen, was sie hier erwartet. Nichts gewöhnliches, sondern originale Naturstoffe aus den Zwanziger – bis Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Qualitätsware.

Die Stoffballen liegen bis unter die Decke gestapelt, so dicht wie die Menge an Jahren und Wochen eines ganzen Jahrhunderts. Schwere Wollstoffe erdrücken geblümte Sommerreste aus Seide. Die Klassiker: Pepita, Fischgrat, Salz & Pfeffer in verschiedenen Qualitäten über – und nebeneinander gepresst, ein Zipfelchen Chintze darüber und zwischendrin karierter Hemdenstoff aus ägyptischer Baumwolle. Fünfziger Jahre. „Garantiert frei von Pestiziden“, sagt Ilyapour. Steifes Leinen, streng wie Hausfrauenstolz, zwischen weichen Jerseys und noppigen Tweeds.
Die freien Wandplätze sind von Mode – Reliquien besetzt: Hackenschuhe, ein Schirm aus Papier, Schmuck aus riesigen bunten Klunkern, ein gestreiftes Kleid aus Azetatseide.

Nur ein schmaler Gang ist zwischen den Stoffballen geblieben. Ilyapour, breit wie ein Bär, passt gerade noch so hindurch. Er zwängt sich voran, gefolgt von seinen Kunden.

Das schwule Pärchen sucht Stoff für Sitzkissen. Sie sind nicht sicher. Hahnentritt vielleicht. Ach nee. Ein Salz – und Pfeffer – Anzugstoff aus den Zwanzigern, wie ihn die Proletarier damals gern auf den Parteiversammlungen trugen?
Wie wäre es mit diesem da? Uni. Orange. Reine Schurwolle aus den Sechzigern.
„Kratzt aber“, warnt Ilaypour.
„Ich sitze da ja nicht nackig drauf. Normalerweise trage ich Hosen“, entgegnet der Käufer.
„Na dann bin ich ja beruhigt.“ Ilyapour wickelt den Stoff in braunes Packpapier.
„Sieht aus wie ein Wurstpaket“, freut sich sein Kunde. Eine leichtfertige Bemerkung, die Ilyapour heraus fordert. „Woanders bekommen Sie für Ihr Geld eine schöne Verpackung mit nix drin“, dröhnt er. „Bei mir ist es umgekehrt. Übrigens ist das auch gutes Packpapier.“

Er knurrt einen Abschiedsgruß. Die beiden ziehen glücklich weiter. Sie mögen die bärbeißige Kompetenz des Stoffhändlers.

Oleg Ilyapour macht keinen Hehl daraus, dass er auf die meisten seiner Kunden auch verzichten kann. Er will ja nicht reich werden. Er braucht eh nicht viel. Morgens und mittags einen Kaffee im Double-Eye nebenan, die billigsten Zigaretten, wenig Strom. Einmal in der Woche geht er tanzen. „Hätte ich ein Auto und würde zweimal im Jahr verreisen, könnte ich den Laden nicht halten.“

Die Stoffe sind das Erbe seiner Eltern. Sie kamen in den Zwanzigerjahren aus dem Iran nach Berlin. Sie lebten gut vom Handel mit den Stoffen, bis auch die letzte kleine Nähmanufaktur in Berlin aufgab. Das war irgendwann in den Siebzigerjahren.
„Das schmeißen wir nicht weg. Dafür haben Leute hart gearbeitet“, sagte seine Mutter damals, als sie die Ladentür für immer schloss.
Wenige Jahre später sperrte der Sohn sie wieder auf.

Die Frau, die einen neuen Gürtel für ihren blauen Trenchcoat sucht, weil der alte zerbröselte, ist nach Ilyapours Geschmack. Für Kunden wie sie, die Ausbesserer, Erhalter, Bewahrer, steht er morgens auf, trottet von seiner Wohnung zum Laden, dekoriert die Schaufenster alle paar Wochen neu.
Lange sucht er in den Stapeln nach dem passenden Popelin im Blau des Mantels. Er schneidet den Stoff auf das richtige Maß, erklärt der Frau, wie er verarbeitet werden sollte, wickelt ihn ein.

Spürt der Wächter der Stoffe bei seinen Besuchern Interesse, verbreitern sich seine Kommentare zu kleinen Referaten oder Erfahrungsberichten. Ein gemütliches Berlinisch wie das seine ist in der vornehmen Akazienstraße nur noch selten zu hören.

Wundersame Dinge weiß er zu erzählen: Von Kaschmirtüchern, wie sie die Aristokraten zur Zeit Napoleons liebten, so hauchzart und leicht, dass sie ausgebreitet in der Luft stehen blieben.

Die Geschichte vom Querdenker Joseph-Marie Jaquard, der lustlos die Weberei seiner Eltern in Lyon übernahm, zwischen den Webstühlen saß und träumte, bis er gänzlich verarmt war. Dann erfand er einen maschinell betriebenen Webstuhl, den man als den ersten Computer bezeichnen könnte. Weil er nach demselben Prinzip funktioniert. Jaquard speiste ihn mit Lochkarten. Sein Code bestand zwar nicht aus Nullen und Einsen, doch auch aus lediglich zwei Informationseinheiten: „Loch“ und „kein Loch“. Loch hieß: Faden heben. Kein Loch: Faden senken.
So „programmiert“ entstehen an den Jaquard-Webstühlen die kompliziertesten Stoffmuster.

Das Gewand eines afrikanischen Stammesfürsten inspiriert Ilyapour zu einer Plauderei über Muster. Jene sinnlichen bunten Stoffe, die wir heute als typisch afrikanisch empfinden, stammen ursprünglich aus Indonesien, von wo die afrikanischen Sklaven sie mit nach Hause brachten.
Das Karo hingegen ist keine europäische Erfindung, sondern wurde zuerst in Indien und Afrika gewebt.

Immer weniger Leute schneidern selbst. Kaum einer setzt noch eine Nähmaschine in Bewegung, um etwas zu reparieren und auszubessern.
Doch in den letzten Jahren interessieren sich mehr und mehr die Film – , Theater – und Museumsleute für Ilyapours Stoffe, denn das exotische Lager erzählt Kulturgeschichte.
Die Botschaft der Stoffe handelt nicht nur von Moden, sondern von Lebensweisen, Träumen, Zeitgeist und vergangenen Utopien. Die Kulturwissenschaftler lassen sich von Ilyapour beraten.

Allein der Stoff eines einzigen Jahrhunderts ist unendlich. Ilyapour weiß, dass er nichts weiß. Er lernt gern dazu.

Kurz nach dem Mauerfall schlenderten zwei Damen aus der DDR durch die Schöneberger Akazienstraße. Sie kamen vom Dessauer Bauhaus und hatten von Fichu gehört.
Als sie hinter dem großen, bärtigen Mann zwischen die Stoffballen drängten, fanden sie, was sie suchten: Originale Bauhaus-Stoffe von Anfang der Dreißigerjahre.
In dieser Zeit, erfuhr Ilyapour, wurden viele Bauhaus-Entwürfe industriell gefertigt. Das neue Motto des Bauhauses hieß damals: Volksbedarf statt Luxusbedarf.
„Was möchten Sie für diesen Stoff haben?“, fragten die Frauen. Ilyapour murmelte etwas von „hundert Mark der Meter“. Die Damen waren entsetzt. Das sei doch viel zu billig. Die Stoffe seien mindestens das Drei – bis Vierfache wert. Und das wollten sie auch dafür zahlen. Selbstverständlich.
Ilyapour muss sie verstört angeschaut haben. Diese kleine Begebenheit hat seine Meinung über die Ostdeutschen nachhaltig geprägt. „Ich habe damals viel von den Leuten aus dem Osten gelernt. Da waren Fachleute dabei, die drüben in der Bekleidungsindustrie gearbeitet hatten.“
Seither verwahrt er die Bauhaus-Stoffe an einem diebessicheren Ort.

Ilyapour ist ein Beobachter. Er steht auf der Treppe, saugt an den Zigaretten, die seinen grauen Bart um die Lippen gelb färben und lauscht den Geschichten der Leute.

Manchmal drückt er den Passanten, die bei ihm stehenbleiben, zu Beginn der Plauderei einen Zettel in die Hand. „Da steht was drauf, was du gleich sagen wirst. Ließ das erst, wenn ick es sage.“
Mit dieser ruhigen, tiefen Stimme, die manchmal von weit hinten zu grollen beginnt.
Nach zirka fünf Minuten fordert er seinen Gesprächspartner auf zu lesen. Da steht: Ich muss jetzt weiter. Habe zu tun.
Ilyapour lacht. „Früher wollten die Leute gar nicht mehr weg. Heute haben es alle eilig. Gemütlich darf es nicht werden.“

Manchmal wird es doch gemütlich, zum Beispiel, wenn eine ehemalige Mitbewohnerin aus alten WG-Zeiten vorbei schaut. Sie steigt auf die Fußbank an der Wand mit den Chanel-Knöpfen, um an seine Wange zu reichen und ihm einen Kuss zu geben. Wie früher.
Als habe sich seit damals nichts geändert. Unter den Knittern sitzt dieselbe Qualität, die Träume und das Begehren.

Der Wächter der Stoffe sieht sich auch als Hüter einer Kultur, von der die schlecht gekleidete Generation Turnschuh da draußen nichts mehr weiß. Er steht wie ein Bollwerk gegen den Werteverfall auf der Treppe.
„Ick rede hier nich von Klamotten, wa.“ Eine ernst gemeinte Warnung. Er nimmt das Wort mich höchster Verachtung zwischen die Zähne. Für ihn ist es Synonym der Vernachlässigung und des mangelnden Stils.

Dass man sich heute nicht mehr kleidet, sondern Klamotten trägt, darin sieht Ilyapour den gesellschaftlichen Wandel ausgedrückt, die Entwertung des Menschen, dessen Begabungen und Individualität nicht mehr gefragt seien.

Er hängt die finnischen Op-Art-Kleider an die Tür, exotische Stücke aus hauchdünner, reiner Wolle, per Hand bedruckt in den Sechzigerjahren. Ilyapour interpretiert die großzügigen Motive als Monitore und Netzwerkkabel. Es sind Kleider, mit deren intellektuellen Unschick sich viele Frauen gern umgeben würden, der jedoch die wenigsten kleidet.

Was hat er damals in den Sechzigerjahren gemacht? Wovon träumte er? Wofür hat er gekämpft? Er winkt ab, schüttelt den Kopf. Darüber möchte er nicht sprechen. Wozu auch? Das ist vorbei.

Jetzt ist Zeit für den zweiten Kaffee im Double-Eye nebenan. Er grüßt die Studenten, die immer gut gelaunt, den besten Espresso der Stadt aus der alten FAEMA E 61 holen, den Milchschaum in der Form eines Blattes oben drauf setzen und mit Kakao bestreuen. An den Bistrotischen vor der Tür bietet sich jede Menge neuer Stoff. Das Leben hört nicht auf zu weben. Die alte Maschine rattert. Wer denkt sich nur diese bizarren Muster aus?