Ich muss dich mal kurz wegdrücken

Cindy. Schmid.Telefondame

Collage © Cindy Schmid

Es kommt einem vor, als drängelten sich Ladenkassen, Milchkaffeedüsen, Zugtüren und Presslufthämmer immer massiver in den Vordergrund der Gespräche. Oder liegt das daran, dass wir – die Telefongeneration – nur noch miteinander reden, während wir von einem Termin zum anderen durch Straßen und Kaffeeläden hasten?

Auch ich telefoniere unterwegs. Warum sollte das Warten auf den Bus oder im Kaffeeladen nicht genutzt werden, um mit Freunden und Verwandten zu plaudern? Ich trage einen Knopf im Ohr. Auf diese Weise bin ich immer auf Empfang. Im Sommer fahre ich mit dem Knopf im Ohr Fahrrad, im Winter erspart er mir die Fummelei in der Tasche, wenn es klingelt. Ich trage zwei Paar Handschuhe, von denen das zweite so dick ist, dass ich mir damit nicht einmal die Haare aus dem Gesicht schieben kann ohne mir die Pelzmütze vom Kopf zu reißen. Nein, ich lebe nicht am Polarkreis. Aber ich gehöre zur frostempfindlicheren Sorte. Ich brauche Wärme. Ich brauche Zuwendung und Austausch.

Im Büro liegt das Telefon neben dem Laptop. Gerade schreibe ich eine Geschichte, die in einem verschlafenen Fischerdorf spielt. Es ist gar nicht so leicht, sich in einem Gemeinschaftsbüro über einer sechsspurigen Straße in ein verschlafenes Fischerdorf zu versetzen. Eigentlich möchte ich nicht gestört werden, aber es könnte ja etwas passieren. Meine Tochter Jolanda könnte wieder den Haustürschlüssel abbrechen, mein Freund Eric einen Herzinfarkt erleiden. Das Telefon neben dem Laptop ist eine Art Versicherung, dass da draußen alles in Ordnung ist, beziehungsweise ich rechtzeitig zur Stelle und eingreifen kann.

Als ich es mit der ersten Tasse Kaffee endlich in das Fischerdorf geschafft habe, ruft Jolanda an.

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Dunkle Spiegel

Die Ausstellungen KUSHTI ATCHIN TAN? – EIN GUTER ORT? von Delaine Le Bas und DARK GLASS von Daniel Baker in der Galerie Kai Dikhas am Moritzplatz

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Daniel Baker „charm series (globe) 2013, Blattsilber und Emaille auf durchsichtigem Acryl

Auf meinem Schreibtisch liegt eine Kunstpostkarte. Sie zeigt eine Weltkugel als Schlüsselanhänger. Der mit Silberfolie beschichtete Hintergrund erinnert an einen dunklen Spiegel. Ein Spiegel mit schwarzen Flecken am Rand, ein alter Spiegel. Der Schlüsselanhänger mit dem Globus scheint darüber zu schweben. Die Erde ist am Nordpol angekettet und mit einem silbernen Ring verbunden, zum An-das-Schlüsselbund knipsen.

Wenn ich ins Büro komme und meinen Laptop auf den Tisch lege und all die anderen Gegenstände, die ich für den Arbeitstag brauche: Kalender, Telefon, Brille, Stift und Notizbuch, sehe mich selbst in dem Spiegel, ein bisschen unscharf und verzerrt. Aber ich schaue die Karte lieber so an, dass sich statt meines Gesichts nur die Zimmerdecke darin spiegelt. Dann lenkt mich nichts von der Weite ab, die der Spiegel erzeugt. In seinem dunklen, nostalgischen Glanz spiegelt sich mein Fernweh, meine Lust, eine unbekannte Welt zu betreten und darin auf Entdeckungsreise zu gehen.

Der britische Künstler Daniel Baker hat dieses Bild gemalt. Es ist gerade in seiner Ausstellung DARK GLASS in der Galerie Kai Dikhas im Aufbauhaus am Oranienplatz zu sehen.

Daniel Baker beschäftigt sich schon lange mit Spiegeln als künstlerischen Gestaltungsmittel. Das hat wahrscheinlich mit seiner Herkunft zu tun. Er ist ein Kind britischer Traveller, ein Gypsy. Er ist zwar in einem festen Haus geboren, aber nur, weil die Wohnwagensiedlung, in der seine Eltern lebten, kurz vor seiner Geburt abgerissen wurde.

Daniel ist ein Intellektueller mit britischem Understatement und einer faszinierenden Ausstrahlung. Er hat eine Doktorarbeit über „Gypsy Aesthetics“ geschrieben. Er hat sich darin auf die Suche nach dem genetischen Code der Kunst der Romani gemacht. Baker sagt, der Begriff Kunst sei den Fahrenden eigentlich fremd, dabei hat ihr Alltagsleben etwas Entscheidendes mit der Kunst gemein. Genau wie in einem Kunstwerk haben im nomadisierenden Alltag alle Gegenstände eine Funktion. Diese bestimmt ihren Wert. Sie werden mit Ornamenten versehen, sind oft stark farbig oder glitzern. Gern werden sie in Spiegelschränken präsentiert, damit der Betrachter sie von allen Seiten sehen kann.

Mit DARK GLASS präsentiert er in Berlin seine neuesten Arbeiten, in denen die „Lucky charms“ – die Glücksbringer als Schlüsselanhänger, im Mittelpunkt stehen. Sie waren eine beliebte Ware der Fahrenden in seiner Heimat.

DARK GLASS – bis zum 6. Juni 2015 in der Galerie Kai Dikhas in der Prinzenstraße 84.2 im neuen Anbau des Aufbauhaus am Moritzplatz

Die Installation KUSHTI ATCHIN TAN? – EIN GUTER ORT? von Delaine le Bas befindet sich noch bis zum 16. Mai im 3. Und 4. Obergeschoss des neuen Aufbau-Hauses, in den künftigen Räumen der Berliner Niederlassung des Dokumentationszentrums Deutscher Sinti und Roma.

Ich habe mich wie ein Voyeur gefühlt, als ich die Installation der berühmten Gypsy-Künstlerin betrat. Weil Delaine Le Bas sehr persönliche Gegenstände zeigt, in einer farbigen Welt, die auf den ersten Blick Gypsy-Romantik versprüht. Zugleich spürte ich, wie extrem zerbrechlich diese Behausung ist. Delaine hat durch die dünnen, schiefen Zeltwände, durch Stoffe und Spitze den Eindruck von Fragilität erzeugt. Liegengelassenes könnte das Zeichen einer Flucht sein. Und je länger dieser Raum auf mich wirkte, desto krasser entpuppte er sich auch als Ort des Schreckens und der Angst.

http://www.kaidikhas.de/de

Daniel Moritz und Delaine

Foto © Uwe Gero

Daniel Baker, Moritz Pankok (künstlerischer Leiter von Kai Dikhas) und Delaine Le Bas beim Artist talk am Vorabend der Vernissage

 

Das Knistern…

…der Seiten

Lesen ist wie Arbeit in einem Bergwerk, aber es erzeugt ein besonderes Geräusch. Das hat mit der Kunst des Umblätterns zu tun, und wer die beherrscht, mit dem kann man auch eine Beziehung führen

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Wird es knistern?

Bücher und Zeitschriften führen ein Leben wie andere Menschen auch. Sie haben einen Körper. Ihr Körper ist aus Papier. Er ist alles andere als totes Holz. In diesem Körper sind Bücher unterwegs. Mal liegen sie oben und mal unten. Sie bilden auch Gruppen und verlassen diese wieder, einige schneller, andere nie. Sie können Staub aufwirbeln, Risse und Quetschungen davontragen und von Milben befallen werden. Deshalb sind es keine appetitlichen Tiere, mit denen Leser verglichen werden: Bücherwurm! Leseratte! Lichtscheue Biester. Im Untergrund mit der Taschenlampe. Ja. Lesen ist wie die Arbeit in einem Bergwerk.

Aber dieses Kratzen und Schaben erzeugt ein feines Geräusch. Das Blättern klingt wie wenn etwas schleift. Wenn jemand in ein Buch oder Magazin versunken ist, durchströmt mich das Gefühl, mein Körper löse sich im Klang des Lesens allmählich auf. Gleichzeitig ist es wie eine zärtliche Berührung. Ich bewege mich nicht mehr. Ich falle aus der Zeit, genussvoll versunken in das Knistern und Rascheln der Seiten. Wird das Buch zugeklappt, ist alles vorbei.

Ich nenne es die Kunst des Umblätterns. Ein Bildschirm kann das nicht. Er flimmert. Er strengt an. Elektronische Bücher sind zwar anders. Sie flimmern nicht. Sie liegen wie eine ruhige, beleuchtete Buchseite in der Hand. Ich habe nichts gegen ebooks. Sie sind großartig für alle, die gern in der Dämmerung im Garten oder auf dem Balkon lesen, eine Erleichterung für Menschen, die mit viel Lesestoff reisen müssen und wunderbar für ältere Leute, denen dicke Wälzer beim Lesen im Bett zu schwer sind. Ihr Versuch zu knistern ist allerdings erbärmlich.

Die Kunst des Umblätterns ist eines der sinnlichen Vergnügen, die allein unmöglich sind. Denn ein anderer muss für mich blättern. Ich kann nicht gleichzeitig lesen und das Knistern der Seiten genießen. Es ist eine Frage der Konzentration. Weiterlesen

In einem Bäckerladen in Mitte

Ansichtskarten aus Deutschland

Das Foto ist aus meiner Serie „Ansichtskarten aus Deutschland“ – hier: Berlin-Mitte

Ich verbringe die Mittagspause in einem Bäckerladen in Mitte. Am Nebentisch sitzen fünf Personen unterschiedlicher Herkunft, die miteinander deutsch sprechen.

Sie suchen sich ein Phänomen zu erklären: Die Deutschen. Keineswegs abfällig, sondern respektvoll, erstaunt. Die Polin spricht über einen Aufenthalt in Skandinavien, wo die Leute noch viel reservierter seien als in Deutschland. Ein Mann, dessen Akzent ich nicht verorten kann, meint, die Leute in Osteuropa seien anders als die Deutschen. Die Familie spiele dort eine größere Rolle. Der arabische Mann erzählt, wie er einmal in Berlin im Krankenhaus war und sein Bettnachbar keinen Besuch von seinen Kindern bekommen hat, weil die in den Urlaub gefahren waren. „Das wäre bei uns undenkbar, dass wir in den Urlaub fahren, wenn die Eltern im Krankenhaus liegen“, sagt er. Der Spanier erzählt von den wöchentlichen Familientreffen bei seiner Oma, die er in wundervoller Erinnerung hat. Der dritte Mann vertritt die These, dass es am Wetter in Deutschland liegt. Die beiden Polinnen geben ihm Recht. Aber Polen ist doch genauso dunkel und kalt, denke ich. Am liebsten würde ich mich einmischen.

Dann beginnt sich ihr Gespräch um Krieg und Religion zu drehen. Sie dämpfen ihre Stimmen und stecken die Köpfe dichter zusammen. Ich bin draußen und fühle mich ein bisschen verlassen.

Porträt von Andrea Vollmer

© Andrea Vollmer

Die Autorin im Café nach dem Belauschen der anderen