Berliner Notiz-Blog 17. November 08

Ich trage einen Rock aus wildem Leder. Seine Rückseite kräuselt beim Gehen wie eine Welle.

Vor vier Jahren kaufte ich ihn in einem Geschäft in der Raumerstraße im Prenzlauer Berg. Vier Berliner Designerinnen teilten sich den Laden. Er befand sich unweit des Künstlerbedarfs an der Ecke Dunckerstraße.

Die Welle entdeckte ich beim Anprobieren. Ich lief vor dem großen Spiegel an der Hinterwand des Ladens auf und ab und stellte mir vor, wie ich von einem Caféhaustisch aufstehen und gehen würde, wie das dunkelbraune Leder weich um meine Beine spielte, so dass der Mann, mit dem ich dort gesessen hatte, zwangsläufig dahin schauen und entdecken müsste, dass er das Beste an mir bisher nicht wahrgenommen oder übersehen hatte, wie er sich sofort nervös nach der Kellnerin umsehen, zahlen und mir nachlaufen würde. Zu spät. Ich war gegangen.

Das Gehen ist eine weibliche Eigenschaft. Wie es die Eigenschaft des Wassers ist zu fließen. Das Label heißt Pisces. Die Designerinnen haben die Gegend verlassen. Auch den Künstlerbedarf an der Ecke gibt es nicht mehr. An dieser Stelle befindet sich jetzt ein Restaurant.

Ich trug diesen Rock an vielen Orten. Ich reiste mit ihm bis ans Mittelmeer.

Im letzten Herbst entdeckte ich einen Fleck auf seiner Vorderseite. Vielleicht hätte ich den Fleck einfach dort lassen sollen. Vielleicht wäre das Leder damit fertig geworden. Aber ich beging den Fehler, sofort Fleckenwasser darauf zu kippen und zu rubbeln. Der Fleck leuchtete nun kreisrund und dunkel in einem diffusen Nebel, der sich auf dem samtweichen Leder ausgebreitet hatte.

Ich brachte ihn zu Klara Li, eine der letzten Zauberinnen im Prenzlauer Berg.

„Das ist ja ein zartes Stück“, sagte Klara Li. Der Rock lag ausgebreitet in ihrer Werkstatt. Wir betrachteten ihn schweigend. Dann machte Klara Li diesen und jenen Vorschlag. Ich verzog jedes Mal das Gesicht.

„Es gibt dieses Märchen von Allerleirauh“, sagte ich. Überrascht schaute Klara Li mich an. Jetzt verstand sie mich und begriff, dass wir einer Herkunft und Sprache sind. Klara Li IST Allerleirauh. Ich hatte sie beim Namen genannt und mich so zu erkennen gegeben. Nun war alles einfach.

Zwei Wochen später wirbelten und kreisten kleine Fetzen Fells und Leders um den Fleck auf meinem Rock. Der Fleck selbst war noch deutlich zu sehen, wie eine Sonne, der Mittelpunkt eines Planetensystems, das Klara Li erschaffen hatte.

Ich zog den Rock an. Erst jetzt entdeckte auch sie die Welle auf seiner Rückseite und sagte: „Ich weiß, warum du den Rock liebst.“ Wir verließen ihr Atelier, um bei den Nachbarn Geld zu wechseln. Allen, die wir auf der Straße trafen, zeigte Klara Li den Rock: Dem mageren, britischen Aushilfsverkäufer im Second Hand nebenan, der türkischen Händlerin gegenüber und dem Künstler Krause.

Klara Li lud mich zu ihrem nächsten Konzert ein. Wir unterhielten uns über Gesang und Noten. Wir entdeckten, dass wir beide gerade dabei waren, Noten zu lernen, Klara Li, weil sie als Sängerin an einen Punkt gelangt war, indem sie tiefer in die Geheimnisse der Musik eindringen wollte, ich, weil ich begonnen hatte, Klavier zu spielen.

Am darauffolgenden Wochenende ging ich in das Konzert von Klara Li. Als letztes Lied sang sie „Morning has broken“ von Cat Stevens. Ihre Interpretation gefiel mir. Ich hatte ihr also erzählt, dass es dieser Song war, den ich am Piano übte, über den ich versuchte, die Welt der Noten zu erschließen. Dann sang sie dieses Lied für mich? Sie lächelte und zwinkerte mir beim Singen zu.

„Habe ich dir erzählt…?“ fragte ich sie nach dem Konzert. Sie schüttelte den Kopf.

Wie seltsam. Ich lief durch die Nacht nach Hause. Beim Gehen spürte ich die Welle gegen meine Knie schlagen. Mein Rock trug jetzt außer der Bezeichnung Pisces im Innern das Signet von Klara Li, auf einem goldenen Lederfetzen über dem Verschluss.

Ich dachte an die Dinge, die uns verbinden. Und nun auch noch dieses Lied.

Berliner Notiz-Blog 10. November 08

Über den Bordlautsprecher wird bekannt gegeben, dass sich der ICE aus Hamburg wegen „vandalistischer Angriffe von Castorgegnern“ um zirka 45 Minuten verspätet. Ein älterer Herr flucht verhalten. „Typisch Osten“, schimpft er. Am Bahnhof Zoo habe es so etwas nicht gegeben. Er zieht seinen Kofferrolli unentschlossen auf der unteren Bahnhofsetage hin und her. Die glamourösen Läden sind weiter oben, wo die Züge nach Köln und Bonn abfahren. Hier unten geht es nach Prag und Budapest und ja, auch nach Wien.

Aber er will ja gar nichts kaufen. Er ist sparsam. In seinem glatten Gesicht steht, dass er gut und genügsam lebt. Missmutig wendet er sich dem Kaisers zu, postiert sein Gepäck unter einem der Bistrotische und bestellt im Backshop einen Kaffee.

Ein Schwarzer hält sich am Tresen neben der Kasse fest. „Obama ist Afrika. Yeahh…“ lallt er und erzählt jedem, was alle längst wissen, dass Obama vor einigen Tagen zum Präsidenten der USA gewählt wurde. Dem älteren Herrn ist der Betrunkene peinlich. Etwas ungeschickt balanciert er seinen Kaffeepot vom Tresen zum Bistrotisch hinüber. „Der hat doch nicht nur Alkohol geladen“, raunt er einer Frau in seinem Alter zu, die ihren Koffer neben seinen gestellt hat. Die Frau sagt, dass die Schwarzen jetzt rassistisch werden. „Dazu haben sie auch allen Grund“, bellt ein struppiger Franzose vom Nachbartisch.

„Die kommen doch alle nur deswegen hierher.“ Der ältere Herr streckt seine Hand in Richtung des Franzosen und reibt zwei Finger aneinander.

„Ach und weswegen sind die Europäer nach Afrika gegangen?“ raunzt der Franzose zurück. Er tunkt ein riesiges Croissant in seine Kaffeetasse. Statt den triefenden Teiglappen in den Mund zu schieben, beginnt er mit einem Referat über die dramatischen Folgen des Kolonialismus. Der Kaffee aus seinem Croissant tropft derweil auf die Tischplatte. Der ältere Herr starrt auf die Kaffeepfütze, aus der sich ein kleines Rinnsal löst, das auf den Redner zu fließt. „Da!“, warnt er, aber der Franzose hört ihn nicht. Als er bei der Finanzkrise ankommt –er macht ziemlich große Zeitsprünge -die Weltgeschichte ist bei ihm eine Fünf-Minuten-Sache – saugt sein Jackett den Kaffee wie ein Löschblatt auf.
Der ältere Herr sagt, er habe früher bei der Bank gearbeitet. Er habe niemanden zu riskanten Geldanlagen überredet. Er sei nicht Schuld an der Krise. „Jeder ist Schuld“, sagt der Franzose düster. „Wir alle.“

Der Schwarze löst sich vom Tresen und schlittert in Richtung der Bistrotische. „Obama ist Afrika“, wiederholt er. Der Franzose klopft ihm auf die Schulter. „Ganz ruhig“, sagt er. Er sagt das auch zu sich selbst. Er ist aufgebracht, weil dieser Bankangestellte seiner kurzen Weltgeschichte nicht folgen konnte und er noch einmal von vorn und weiter ausholen muss und nur noch wenig Zeit dafür hat, denn irgendwann wird die Polizei die Atomkraftgegner weg geräumt haben und dann wird sich die Bistrorunde im Kaisers auflösen und im Zug nach den besten Plätzen drängeln.

Der Schwarze erzählt jetzt einem jungen Mann mit Rastalocken, dass Obama Präsident ist und Afrika, also Afrika Präsident ist. Der schaut kurz von seinem Buch auf, lächelt den Störer an und versucht dann, weiter zu lesen.

Das Personal des Backshops fordert den Schwarzen auf zu gehen. „Habe ich Ärger gemacht?“ zischt der. Er breitet die Arme aus, kippt nach hinten, sein Einkauf -ein Fleischsalat und eine längst geleerte, kleine Schnapsflasche- fallen zu Boden, die Flasche zerbricht. Der Sicherheitsmann an der Tür fängt ihn auf. „Du gehst unseren Kunden auf die Nerven“, sagt eine Verkäuferin. „Hau jetzt ab. Geh nach Hause!“

Die Kaffeetrinker an den Bistrotischen tunken ihre Nasen in die Tassen und heften ihre Blicke auf die grau gemusterten Tischplatten. Der Schwarze hält sich am Tisch des Franzosen und am Tisch des Jungen mit den Rastalocken fest. „Ist okay“, sagt der Franzose und klopft ihm auf die Schulter wie man einem Pferd beruhigend auf die Flanken klopft. „Ich gehe erst, wenn Adolf Hitler kommt“, knurrt der Betrunkene.

Als die Polizei kommt, lässt er sich widerstandslos mit ausgebreiteten Armen aus dem Laden führen. Alle atmen auf, so deutlich, dass kleine Wellen ihren weißen Kaffee kräuseln.

Berliner Notiz-Blog 1.Oktober 08

Heute bin ich durch den Regen gelaufen. Die Pfützen lagen wie helle Scherben auf dem Asphalt, in denen sich der Himmel spiegelte. Und dann entdeckte ich, dass sich in den vielen kleinen Scherben die ganze Stadt spiegelte. Alles stand Kopf. Einige Bilder habe ich euch mitgebracht.

Berliner Notiz-Blog 7. Juli 2008

Der Mann, der Hitler den Kopf abriss, tat das nicht wegen einer Stammtischwette. Er tat es aus einem einzigen Grund: Weil er Hitler den Kopf abreißen wollte. Er musste zeigen, dass das schwarz-gelbe Absperrband, dass die Besucher im Berliner Wachsfigurenkabinett von Hitler trennte, eine Lüge ist. Die Lüge der Geschichte. Weil er mehr begriffen hat als die Geschichtsvermesser, die Epochen von hier nach dort spannen und mit schwarz-gelben Bändern voneinander trennen. Der Mann stand Hitler gegenüber. Direkt. Das Einzige, was er in dieser Situation tun konnte, war, Hitler den Kopf abzureißen und „Nie wieder Krieg!“ zu rufen. Das ist doch ganz normal. Oder? Was ist daran schlecht? Jeder hätte sich gewünscht, das zu tun, was er tat.

Er hat niemals mit Popcorn auf dem Schoß in „Der Untergang“ gesessen und danach darüber palavert, ob das ein guter oder schlechter Film ist und ob es eine gute Idee war, einen solchen Film zu machen und was es bedeutet, wenn Menschen solche Filme drehen. Er hat niemals die Augen verdreht: Schon wieder Hitler!
Ihm ist der kalte Schweiß ausgebrochen. Mit Geld hatte das nichts zu tun.
Woher ich das alles weiß? Keine Ahnung. Ich habe den Mann, der Hitler den Kopf abriss, nicht getroffen. Ich wünsche mir, dass es so war.

Es besteht kein Grund, Hitler wieder herzustellen. Man sollte ihn so lassen, wie er jetzt ist. Mit abben Kopf. Man könnte den Kopf auf seinen Schreibtisch legen. Oder auf den Fußboden. Man könnte auf ein kleines Schild den Namen des Mannes schreiben, der „Nie wieder Krieg!“ gerufen hat.

Berliner Notiz-Blog 30. Juni 2008

Ich bin umgezogen. Während des WM-Finale gestern Nacht sortierte ich meine Bücher in die Regale. Meine Regale sind im Laufe der Jahre zu klein geworden. Die Bücher müssen jetzt in doppelten Reihen stehen. In der letzten Wohnung hatte ziemliche Unordnung geherrscht. Unordnung in meinem Leben. Chaos in meinen Büchern. Einige von ihnen hatte ich vergessen und hieß sie wie alte Bekannte in meinem neuen, kleinen Universum willkommen.
Durch das Platanendach vor dem Fenster drang der Lärm der Spiels, der Chor der Zuschauer. Ich fühlte mich erschöpft. Um Kraft zu sammeln, sprach ich mich mit den Büchern. Ich machte denen Mut, die ständig zwischen den Etagen wandern mussten und ich schimpfte, wenn die vordere Reihe immer wieder umkippte.
Ich sagte mir die Namen laut auf, während ich sie ins Alphabet stellte – Aitmatow, Auster, Brett, Cocteau, Duras, Hein und Heym, Gavalda, die Manns, Marai, Nabokov – ich glich dem Sportreporter, der die Namen der Spieler nennt, die gerade am Ball sind – Salinger, Saint-Exupery, Schwarzer, Tschechow, Woolf, Wander, Yoshimoto, Zeh und Zinner – meine geliebte Nationalmannschaft!