Kathrins Notiz-Blog 19. April 10

© Illustration Liane Heinze

Ich habe Jolanda im Café Berger getroffen. Es war das erste Mal in diesem Jahr, das wir draußen auf den Gartenbänken sitzen konnten. Über den Armlehnen hingen noch die Wolldecken vom Winter, aber Jolandas Nase und ihre Wangen waren schon mit Sommersprossen übersäht. Das ist in jedem Jahr das Startsignal für den Frühling. Ihre Augen glühten wie sattes Moos im Sommer.

„Was meint Leon, wenn er sagt: Etwas zusammen aufbauen? Ist doch logisch, dass man als Paar etwas zusammen aufbaut, oder? Das geschieht doch von selbst“, fragte ich die zukünftige Kriminalistin.

Jolanda zündete sich eine Zigarette an. Sie stieß energisch den ersten Rauch aus. „Du wirkst immer etwas abwesend, Mama. Egal wo du bist, du bleibst am Rand. Wahrscheinlich fürchtet er, dass du dich eines Tages auflöst, dass er sich umschaut und du bist verschwunden.“

Sie musterte kritisch die Vorgänge hinter dem Tresen.

Ich bezog auf der Gartenbank meinen Verteidigungsposten. „Ich bin da. Er weiß es. Er hat vielleicht Angst, mich zu verlieren, aber ich bin da. Ich bin heftig da. Ich setze mich mit seiner Familie, mit seiner Arbeit auseinander, berate ihn…“

Jolandas schattige Moosaugen sprangen mich abwechselnd an und an mir vorbei. Ein Pingpong bis zu meiner nächsten Atempause, um mir ins Wort zu fallen. Ihre Lippen lagen bereits in Startposition. Dann wurde ihr Salat serviert. Sie drückte die Zigarette aus, kippte, ohne zu probieren, Salz und Balsamico über die Blätter und Körner und begann zu essen. Ich holte Luft und redete weiter. „Ich koche. Ich habe die Wohnung umgeräumt. Ich räume sein Leben um. Ich arbeite wie eine Trümmerfrau. Und er sagt: Mit dir kann man nichts aufbauen.“

Jolanda tauchte aus dem Salat auf. „Trümmerfrau. Ein Wesen ohne Namen. Verhärmt, grau, Asche.“

Ich flüchtete an meine Kaffeetasse. Der Kaffee war schnell kalt geworden, bot keinen Trost mehr. „Du meinst doch nicht, ich…“

“Du wärst eine strahlende Erscheinung, wenn du nicht mit dieser Tarnkappe unterwegs wärst“, sagte Jolanda. „Du trägst sie links herum, umgekehrt. Wenn jemand eine Tarnkappe richtig aufsetzt, ist er unsichtbar, aber man kann sich an ihm stoßen. Du bist sichtbar, gerade noch so, aber man kann sich an dir nicht stoßen. Du weichst aus. Du schaffst jedem Platz, lässt alle so sein, wie sie sind…“

„Das nennt man Toleranz!“

„…das versteht er doch nicht. Außerdem – warum solltest du tolerieren, was dir weh tut? Er provoziert dich, um dich zu spüren, deinen Widerstand. Du solltest dich öfter mal beschweren, mehr klagen, etwas fordern, eben seine Sprache sprechen.“

Ich war hingerissen von Jolanda, ich konnte nicht anders. Wie sie den Salat aß, wie sie sich alles nahm, was sie brauchte, sich einverleibte und dabei sprühte und dampfte, dass alle zu uns rüber schauten…Ich konnte ihr den Unsinn, den sie redete, gar nicht übel nehmen.

„Ich bin eben ein sensibler Typ, am Rand, ja, eine Beobachterin. Ich bin anders als du, ich habe nicht deine Dichte. Aber so bin ich nun einmal. Vermutlich wurde ich so geboren. Wieso wird das Leise nicht wahrgenommen, beziehungsweise immer negativ bewertet? Wieso wird man schuldig gesprochen, wenn man nicht mit der Trommel durchs Leben stampft? In was für einer Welt leben wir eigentlich?“

„Genauso“, schnurpste Jolanda zwischen ihren Salatblättern hervor. „Motze ihn an für die Welt, in die er dich hinein zu ziehen unterstanden hat.“

„Feiner Deutsch.“

„Apropos: Ich brauche ein Ballkleid.“

„Apropos: Bereitest du dich auf die Prüfungen vor oder beschränken sich deine schulischen Aktivitäten auf die Organisation des Abi-Balls?“

„Apropos: Jakob ist im Komitee, du weißt, Jakob aus dem Schultheater: Harpagon.“

„Hmmm.“

„Auf einer Tournee nach Westberlin sind wir uns näher gekommen. Mit Sören und mir, das ging gar nicht mehr, weißt du.“

„Moment mal, sprichst du jetzt von Kleidern oder Menschen? Oder bringst du gerade beides durcheinander?“

Jolanda unterbrach das Zermalmen der Salatblätter. „Ich habe ein fürchterlich schlechtes Gewissen. Aber was soll ich denn machen? Ich war noch nie im Leben so glücklich wie mit Jakob.“

„Wie geht es Sören?“

„Nicht so gut. Er würde sich sicher über deinen Anruf freuen.“

„Hmmm.“

Wir liefen durch die aufdringlich gut gelaunten Straßen. Seltsam, dass ich Jolanda so sehr liebe, obwohl sie ganz und gar verschieden ist von mir. Wir sehen uns ähnlich, sind aber verschiedene Typen. Diese Erfahrung, jemanden trotz seiner Verschiedenheit ähnlich zu sein und über alles zu lieben, macht man nur mit Kindern.

„War das deine Angst als Kind, dass ich mich auflöse und verschwinde?“

Jolanda rauchte schon wieder, blies den Rauch in den Himmel. „Damals, als du die Fahrschule gemacht hast, konnte ich mir nicht vorstellen, dass du ein Auto beherrschen kannst, so abwesend und verträumt wie du bist. Ich hatte Angst, einzusteigen. Todesangst. Natürlich habe ich mich nicht getraut, es zuzugeben.“

„Aber ich bin eine ausgezeichnete Autofahrerin. Ich reagiere blitzschnell. Das muss dir doch gezeigt haben, dass du mich völlig unterschätzt hast.“

„Ich erinnere mich, dass du ein oder zweimal an der Ampel standest und der Motor immer wieder ausging.”

„Na und? Das ist nicht lebensgefährlich. Ich bin völlig cool geblieben. Je mehr hupen, desto cooler werde ich.”

„Es war peinlich.”

„Deine Todesangst war also nur die Angst, sich zu blamieren.”

„Was heißt: nur? Manche Dinge sind so peinlich, dass man lieber sterben möchte.”

„Bin ich dir immer noch peinlich?”

„Du warst mir nie peinlich. Hallo?! Es war nur diese Situation. Im Gegenteil: Ich finde es immer lustig mit dir. Wir haben doch einige gute Performances hingelegt, oder?“

Kathrins Notiz-Blog 5. April 10

© Illustration Liane Heinze

Leon war seit Stunden in seiner Garage verschwunden. Es war kalt. Es regnete. Ich saß im Fensterrahmen. Die Heizung bullerte unter meinem Po. Die SISUSTA! hat mir Lust gemacht, Räume zu entwerfen, zu kaufen, was ich will, ohne Limit, eine Werkstatt zu haben, in der ich aus aufgegebenen, verlorenen, weg geworfenen Objekten etwas Neues gestalte. Ich möchte losgehen und Dinge suchen, alte Möbel, Holzstücke, Metall, Plastikschnipsel, auf Böden und in Kellern stöbern, wie ich es als 16jährige gemacht habe, auf ein Dorf fahren und die Leute überreden, mir ihre Häuser und Wohnungen zu zeigen. Statt hier zu sitzen und mir die Hände an einer Tasse Tee zu wärmen.

Ich zog meinen dicken Anorak an, packte Mütze und Handschuhe und etwas Proviant ein.

Leon scrollte die Angebote auf Ebay durch.

„Ich fahre in die Uckermark. Spätestens mit dem letzten Zug komme ich zurück.“

Ich nahm die Wochenendausgabe der Zeitung mit, las aber nicht. Die ganze Fahrt lang döste ich aus dem Fenster.

Der Bahnhof von Wilmersdorf ist wie viele Bahnhofsgebäude dem Verfall preisgegeben. Es ist ein schönes, altes Haus aus roten Ziegeln. An seiner Fassade sind die Kilometerzahlen bis Berlin und Greifswald angegeben, ein nostalgisches, hellgraues Zahlenrelief: 156,5 km bis Greifswald, 86,5 km bis Berlin.

Vier Bahnsteige sind über eine Brücke miteinander verbunden. Auf der Brücke warnte ein rot-weißes Schild vor einer bröckelnden Stufe.

Die Bahnhofsstraße, eine holprige Allee, kaum genutzt, drückt sich in die Wiesen, in die Nähe des Waldes, führt in einem schüchternen Bogen zu einer kleinen Ansammlung von Häusern. Auf der anderen Seite des Dorfes rauscht die Bundesstraße entlang, dekoriert mit gelben und blauen Schildern, die Orte ankündigen und die nahe Autobahn in Richtung Berlin und Stettin, in Klammern Szczecin. Die Vergangenheit besaß auf diesem Schild Gültigkeit. Die Gegenwart war in Klammern gesetzt. Das Schild erinnerte mich daran, dass ich in einem Land, das Orte und Zeiten so behandelt, eigentlich nicht leben möchte.

Ich lief entlang der Bundesstraße. Ich war wütend, weil ich so viel Geld für eine Fahrkarte nach Wilmersdorf bezahlt hatte, ein ganzes Tagesbudget für wenige Stunden. Ich fühlte mich allein. Ich bog in einen Waldweg ein und lief und lief, bis sich die Landschaft endlich vor mir öffnete. Die rötlichen Baumkronen am Horizont faserten in die violetten Streifen des Himmels aus. Davor lagen Felder und Seen, die noch Eis atmeten, auch sie von einem roten Licht bedeckt. Der Frühling war zart wie Anfang März. Er wehte leicht und kalt von der Ostsee herein. Ich rief Leon an. „Ich möchte, dass du das siehst. Kommst du?“ Er seufzte düster.

„Es ist magisch schön“, sagte ich. Was für ein Blödsinn! Dieses Bild ließ sich nicht beschreiben. Er machte ein knappes, zustimmendes Geräusch. „Die Arbeit frisst mich auf.“

„Wir können später mal mit den Rädern herkommen“, schlug ich vor.

„Es passiert gerade sehr viel“, sagte Leon. „Ich habe jemanden getroffen. Wir wollen einen Internet-Handel für Retro-Bikes aufziehen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Er entschuldigte sich dafür, in nächster Zeit viel reisen zu müssen.

„Das ist wunderbar“, sagte ich. Er machte wieder dieses knappe, zustimmende Geräusch.

Dass er nicht bei mir war, nicht sah, was ich sah, tat weh, fast wie ein Trennungsschmerz.

Auf dem Rückweg scheuchte ich am Bahnhof zwei große Katzen aus ihrem Versteck. Sie hatten im Windschatten des Schuppens gegenüber gehockt. Eine Lampe klickte an, beleuchtete spärlich den Bahnsteig. In einem der oberen Fenster des Bahnhofsgebäudes brannte Licht. Ich lief zurück, fand den Eingang der Wohnung, ein Namensschild. Durch das Schlüsselloch stank es nach Katzenpisse. Kunstblumen standen auf einem kleinen Tisch im Flur, daneben eine Yuccapalme. Ich fasste mir ein Herz und klingelte. Nichts geschah. Ich klingelte noch einmal. Minuten vergingen, dann polterte jemand die Treppe hinab. Ich trat ein Stück von der Tür zurück. Ein Biker mit strähnigen Haaren öffnete. Er musste um die Fünfzig sein. Sein Bauch quoll über den Bund der schwarzen Lederhose. Er schob die Hemdsärmel hoch, legte die tätowierten Unterarme frei. Er wirkte verlegen. Ich entschuldigte mich und fragte, ob es möglich wäre, den Bahnhof zu besichtigen. „Ich bin Architektin“, log ich.

„Schon wieder eine Architektin?” Er strich die Haare hinter die Ohren. „Das nächste Mal verlange ich Eintritt.“

„Sie passen auf den Bahnhof auf, ja?“

Er antwortete nicht, verschwand. Ich wartete. Es dauerte einige Minuten, dann kam er mit dem Schlüssel. „Bringen sie ihn zurück, wenn Sie fertig sind”, sagte er.

Der Zug nach Berlin fuhr in Bahnsteig zwei ein, auf der anderen Seite der Brücke.

Durch die grauen Gardinen und die verdreckten Scheiben der Bahnhofshalle sah ich nur eine Minute später den Zug sich beschleunigen. Dann war es so still, dass man den Staub über den Fußboden wehen hörte. Es hatte ein Bahnhofsrestaurant gegeben und einen Zeitungsladen. Die Türen waren verschlossen.

„Seit wann ist der Bahnhof gesperrt?“, fragte ich den Mann, als ich den Schlüssel zurück brachte. Vielleicht würde ich erfahren, ob er der Sohn oder Schwiegersohn, ob er seine Eltern Ostern besuchte, ob sie noch lebten. Ich hatte noch viel Zeit bis zum nächsten Zug. Vielleicht würde er mir einen Kaffee kochen. Ich war bereit, mich mit ihm über seine Harley zu unterhalten, über die nächste Kneipe oder ein Konzert, was auch immer er zu erzählen hatte, nur, um nicht allein zu sein.

„Keine Ahnung.” Er lehnte in der Wohnungstür. Es roch nach angebranntem Käse. Über seiner Schulter glänzte ein Stück Schrankwand. Unter seinen Achseln lagen Spitzendeckchen und Kunstblumen auf dem Fensterbrett. Der Fernseher lief. Vielleicht war seine Mutter kürzlich verstorben und er plötzlich ganz allein mit den Spitzendeckchen und den Kunstblumen. Vielleicht hatte er seine Einsamkeit noch gar nicht bemerkt.

Ich schlenderte über die Bahnsteige, studierte lange den kleinen Fahrplan und lief schon zwanzig Minuten vor dem nächsten Zug nach Berlin über die Brücke, um ihn ja nicht zu verpassen.

Jolanda hatte eine SMS geschrieben. Frühling nervt.

Verkriech dich einfach hinter deinen Büchern, empfahl ich ihr.

Wenn der Frühling nicht so nerven würde, schrieb sie.

Seit der kaputten Waschmaschine hatte ich Jolanda nicht gesehen. Ich schlug ihr ein Treffen vor.

Ziemlich verfroren und hungrig kam ich zu Hause an. Leon saß immer noch in der Garage. Er schaute nicht auf, als ich ihm einen Kuss in den Nacken gab.

„Ich habe Falafel mitgebracht.“

Er hob den Blick vom Monitor. „Gut, ich bin am Verhungern.“

„Warte.“ Ich lief nach oben und holte ein paar Kerzen. „Die ganze Uckermark war mit Osterfeuern getupft, überall, wo Häuser stehen, loderte ein kleiner Haufen Reisig.“ Wir saßen auf der Werkbank. Der Luftzug brannte die Kerzen schief.

„Wir sind wie diese Kerzen”, sagte Leon. „Wir flattern auseinander.” Wie er in die Flammen schaute, das machte mir Angst. Es war die Angst, dass wir in unserer Verschiedenheit diesem Leben nicht gewachsen sein und aneinander wahnsinnig werden könnten.

„Ich möchte mit dir gemeinsam etwas aufbauen“, sagt er. Es klang wie eine Drohung.

„Ich auch“, sagte ich, aber ich wollte nicht schon wieder über das Auswandern sprechen. Keine Chance.

„Wir sollten weggehen aus Berlin“, sagte Leon.

„In die Uckermark?“

„Weiter weg.“

„Warum?“

„Warum nicht?“

„Weil Fernumzüge anstrengend und teuer sind. Ein riesiger Aufwand, nur um nach einem halben Jahr festzustellen, dass die Menschen anderswo dieselben Probleme haben wie wir.“

„Wir sollten uns ein Zuhause schaffen, einen Ort, an dem wir etwas Gemeinsames aufbauen, einen Ort, an dem wir ankommen können.“

„Warum müssen wir dafür weggehen?“, sagte ich. „Dieser Ort könnte hier sein. Er kann überall dort sein, wo wir sind. Wir sind dieser Ort.“

„Diese Garage fällt mir auf den Kopf. Berlin schnürt mir die Luft ab“, sagte Leon.

„Diese Arbeit mit Kolja…”, wandte ich ein. „Ich lerne gerade sehr viel. Sein Projekt ist mir wichtig.“

„Und wenn man dir irgendwann einen Job als Innenarchitektin anbietet, 600 Kilometer von hier entfernt? Würdest du ihn annehmen?“

„Das ist etwas anderes“, sagte ich.

„Wieso?“

Er saß auf dem Sprung. Seine Augen quollen aus dem Halbdunkel der Garage.

„Ich glaube nicht, dass ich diesen Job annehmen würde. Ich möchte hier bleiben. Bei dir und Jolanda.“

Kathrins Notiz-Blog 20. Februar 10

© Illustration Liane Heinze

Jolanda hat angerufen. Sie bittet mich vorbei zu kommen. Die Waschmaschine sei kaputt gegangen und Sören sei langweilig geworden. Ich sagte ihr, wo sie die Telefonnummer des Hausmeisters findet und dass sie jederzeit auch zu uns kommen könne.

„Ist so weit weg“, maulte sie. Ich recherchierte auf Google Maps. Leons Wohnung liegt zirka 700 Meter außerhalb des Reviers, das Jolanda nur unter zwingenden Umständen verlässt, wenn sie ein Amt aufsuchen muss zum Beispiel oder mit der Klasse ein Museum oder eine Gedenkstätte besichtigt.

Kathrins Notiz-Blog 17. November 09

© Illustration Liane Heinze

Gestern Abend nach dem Essen erzählte Leon Jolanda, wie es war, als er so alt war wie sie, als er fort gegangen ist von Zuhause, mit nichts in der Tasche außer seinen Trommeln und seinem Traum.

„Wieso denkt ihr nur an die Karriere und an das Geld. Wo sind eure Wünsche, eure Träume?“, fragte Leon.

Jolanda ließ die Arme zu beiden Seiten ihres Stuhles baumeln. „Wen meinst du mit ‚ihr’?“ Sie wartete Leons Antwort nicht ab. „Falls du mich im majästetis pluralis ansprichst;  ich habe einen Wunsch: Ich möchte ein Kind haben.“

„Ein Kind.“ Leon hob den Blick und die Hände beschwörend in Richtung der Decke.

„Du musst doch erst einmal raus, die Welt entdecken.“

Jolanda sagte, dass es überhaupt kein Problem mehr ist, mit Kindern zu reisen, weil es in jedem Zug Mutter-Kind-Abteile gibt und in den Flugzeugen sogar kleine Hängematten für Babys. Sie habe auch keine Angst vor Afrika und Indien, weil die Menschen dort sowieso viel kinderfreundlicher seien als hier.

Leon wieherte wie ein erschrecktes Pferd. „Sei doch einmal planlos!“, rief er. „Bis jetzt bist du dein ganzes Leben lang brav jeden Morgen zur Schule getrottet. Jetzt kannst du raus. Los. Und morgens nicht wissen, wo du abends ankommst.“

„Ist nicht so meine Art zu reisen“, sagte Jolanda.

Leon sagte, dass er von Jolanda enttäuscht sei, dass er von ihrer Generation mehr Widerstand erwartet hätte, einen revolutionären Geist und Poesie.

Jolanda fragte, wieso er Revolution und Poesie nicht selbst macht.

Leon sagte, sein ganzes Leben sei Revolution und Poesie. Jeder neue Tag.

Jolanda sagte, Leon sei auf dem Niveau eines Sechzehnjährigen stehen geblieben.

Leon sagte, Jolanda rede wie eine alte Frau.

Jolanda knallte die Küchentür.

Leon sagte, dass Jolanda eine typische neue Spießerin sei.

Ich setzte Wasser für Tee auf und aß ein Stück Schokolade nach dem anderen, weil ich so nervös war. Ich finde, dass sowohl Leon als auch Jolanda Recht haben. Ich finde, dass das Leben nicht einfach falsch oder richtig ist, sondern meistens beides gleichzeitig.

Jolanda steckte den Kopf herein. Sie sagte, sie sei jetzt mit Sören verabredet.

Leon sagte, er habe ihr nicht weh tun wollen.

Jolanda entschuldigte sich für ihre Respektlosigkeit.

Mir war schlecht von der Schokolade.

Kathrins Notiz-Blog 2. November 09

© Illustration Liane Heinze

Wie aufgeregte Theaterbesucher schwatzten die goldenen Kirschblätter auf dem Schulhof. Jolandas Gesicht stach hell aus der Dämmerung. Der Wind zauste ihre lockigen Haare. Sie trug Kniebundhosen und ein weites, weißes Hemd. Sie würde an diesem Abend den schlauen Diener „La Flèche“ in Molières Komödie „Der Geizige“ spielen. Mit ihr waren Jakob und Natascha nach unten gekommen. Jolanda stellte uns gegenseitig vor. „Meine Mischeltern“, sagte sie. Dann verkroch sie sich mit Jakob und Natascha in eine windgeschützte Nische hinter der Eingangstür, um zu rauchen.

Wir stiegen die Stufen zur Aula empor. Leon trug einen Mantel, der seit mindestens zehn Jahren in seinem Kleiderschrank hing und nur bei besonderen Anlässen hervor geholt wurde. Bevor wir losgegangen waren, hatte er immer wieder seine Haare in die Stirn gedrückt und gewischt und dabei sehr unglücklich ausgesehen.

Es war das erste Mal, dass ich mit einem Freund, mit einem Mann, in Jolandas Schule ging, so dass man glauben könnte, wir wären ihre Eltern. Ich glaube, es war auch das erste Mal, dass Leon als ein Mischelternteil eine Schule betrat. Ich hatte mich bei ihm untergehakt. Es war ein ziemlich altmodischer Moment, aber er brannte in meinem Herzen so gemütlich wie ein Kartoffelfeuer.

Der Schulleiter regte seinen Kopf über die aufgeregte Menge in der Aula. Er sah aus wie ein Greifvogel. Leon trug ein weißes Hemd unter dem Mantel, aber er schien unfähig, seinen Hals in weißen Kragen zu bewegen. Er wirkte selbst wie frisch gestärkt.

„Was möchte Jolanda werden?“ fragte er nach der Vorstellung, als wir uns von den Kindern verabschiedet hatten und den Weinbergweg hinauf spazierten.

„Kriminalistin“, sagte ich. Ich erzählte Leon, dass Jolanda Kinder haben möchte.

„Wieso denkt sie jetzt schon an Kinder?“, fragte Leon.

„Weil sie…klug ist, vorausschauend?“, sagte ich.

„Aber sie muss doch erst einmal die Welt entdecken, das Leben studieren, raus, sehen, wie es anderswo ist.“ Leon ereiferte sich. „Nicht gleich fertig eingerichtet und Kinder.“

„Heißt es, dass man sich fertig einrichtet, wenn man Kinder bekommt?“

„Du kannst die Dinge nicht mehr einfach so laufen lassen. Du übernimmst Verantwortung.“

„Hast du deshalb keine Kinder?“, fragte ich.

Leon blieb stehen. „Nein. Nein.“ Er schaute auf seine Schuhspitzen. Er hatte elegante, schwarze Schuhe angezogen. „Ich hätte gern Kinder gehabt.“ Einige Blätter raschelten über den Bürgersteig. Die Tram heulte den Berg hinauf.

„Machen wir ein Kind?“, flüsterte Leon in der Nacht. Ich lag auf seinem Bauch. „Mit dir ein Kind – das muss wunderbar sein. Du mit einem dicken Bauch.“

Regen trommelte an die Scheibe. Ich legte mein Ohr an sein Herz und hörte, wie es schlug. „Woher nimmst du den Mut?“, fragte ich.

„Ich bin nicht mutig“, sagte er. „Ich habe Lust darauf.“